Folter
Jürgen Müller-Hohagen
Terror, Folter, Vernichtung werden meist anderswo festgemacht, vom heutigen Deutschland aus zum Beispiel im Südamerika der Militärdiktaturen oder zeitlich „unendlich weit“ zurück im Nazi-Reich oder gar im Mittelalter. Obwohl wir regelmäßig in den Zeitungen von Folter lesen können, bleibt sie uns fern. Dann aber wirken Berichte, wenn man denn Kenntnis von ihnen nimmt oder mit Überlebenden konfrontiert ist, verstörend, und wir möchten uns abwenden.
Doch wir leben im Lande des beispiellosen Folterns. Das liegt in Wirklichkeit keineswegs weit zurück, denn was sind da schon fünfzig oder sechzig Jahre. Und die Folgen sind noch in uns und zwischen uns.
Deshalb ein paar Stimmen zu diesem Thema, Aussagen, die Relevanz haben auch für die psychologische Arbeit.
Von Hermann Langbein, der im KZ Auschwitz der Leitungsgruppe des Widerstands angehörte, stammen diese Sätze:
„Ich darf ein Wort eines Überlebenden von Auschwitz, Jean Améry, zitieren. Er schrieb: ?Wir fürchteten uns nicht im Lager, dass wir sterben. Wir fürchteten uns, wie werden wir sterben.‘ Es gab verschiedene Formen, zu sterben. Und die böseste Form war die der Folter, die angewandt wurde, wenn man unbotmäßig war.“
„Man bleibt für immer von einer Art Tätowierung gezeichnet, so wie Kafka es in ‚Die Strafkolonie‘ beschrieben hat, eine Tätowierung, die in Körper und Seele eingraviert ist“, so schreibt Viñar über die Folgen der Folter.
Mit Blick auf seine eigenen Erfahrungen: „Heute weiß ich, dass diese drei Monate (von Haft und Folter; Hinzufügung M-H) mein Leben und meine Wahrnehmung der Welt zutiefst verändert haben – auch wenn ich nur einem Teil des üblichen Martyriums ausgesetzt war und mein anschließender Gefängnisaufenthalt relativ kurz dauerte. Das waren Gründe, die meine Angehörigen, meine Freunde und auch mich selbst zunächst davon überzeugt sein ließen, ich hätte wohl keine schwerwiegende Traumatisierung davongetragen. Sollte dies dennoch der Fall sein, so wäre das auf meine Persönlichkeitsstruktur, auf meine psychopathologische Veranlagung zurückzuführen. Mein allgemein bekannter Beruf als Psychiater und Psychoanalytiker konnte gegebenenfalls in dieser Richtung eine Erklärung beisteuern, in den Augen der anderen und in meinen eigenen. Es fehlte nicht an Kollegen, die mich dies auf fürsorgliche Weise und voller Rücksichtnahme wissen ließen, während sich andere abschätzig oder gar verurteilend äußerten. Ich benötigte viele Jahre innerer Arbeit und psychoanalytischer Therapie, um an mir selber zu verstehen, dass diese so logisch wirkende Erklärung unzutreffend war. Heute, 23 Jahre danach, weiß ich, dass diese Zeit des Terrors, die nicht länger als drei Monate währte, mein persönliches Schicksal und das meiner Familie nachhaltig bestimmt hat – zunächst im traumatischen Wiedererleben der kurzen Zeitspanne des Martyriums und später im unaufhörlichen Versuch, etwas daraus zu machen. Heute weiß ich: Schon das Wenigste ist fürchterlich und bleibt eingebrannt für immer.“
Jean Améry: „Wenn man von der Tortur spricht, muss man sich hüten, den Mund voll zu nehmen. Was mir in dem unsäglichen Gewölbe von Breendonk zugefügt wurde, war bei weitem nicht die schlimmste Form der Folter (…) Und doch wage ich, zweiundzwanzig Jahre, nachdem es geschah, auf Grund einer Erfahrung, die das ganze Maß des Möglichen keineswegs auslotete, die Behauptung: Die Tortur ist das fürchterlichste Ereignis, das ein Mensch in sich bewahren kann.“
„Das Böseste, das Unvergleichliche des Nationalsozialismus war: (…) Die weitaus größte Zahl der Opfer des Nationalsozialismus wurde ermordet, nicht weil sie Feinde oder vermutliche Feinde waren, nicht weil sie irgendwie eine Machtausweitung gefährdet hätten, wenn sie in ihren Ländern Positionen hatten, die weitaus überwiegende Mehrheit der Opfer des Nationalsozialismus waren Menschen, deren einzige Schuld darin bestanden hat, dass sie auf die Welt als Kinder von Juden oder Zigeunern gekommen waren. Das ist unvergleichlich.“
Es geht um die Vernichtung von Menschen. Zwar mag man sich einbilden, davon unbetroffen zu sein, doch damit sitzt man einer Illusion auf.
Und es geht um mehr als „nur“ um deren physische Vernichtung, denn angezielt wird deren Zerstörung als Subjekt, und dies letztlich für alle Angehörigen der Gesellschaft.
Bei Jan Philipp Reemtsma heißt es dazu: „Die Folter (…) ist die totale Herrschaft des Menschen über den Menschen. Die Folter ist der größte Schrecken, den der Mensch für den Menschen bereithält – nicht der Tod, der sowieso irgendwann kommt (…) Anders die Folter: Sie ist nicht ?unvorstellbar‘, auch wenn das, was real in ihr geschieht, alle Vorstellungen überbieten und immer undarstellbar sein mag. In ihr kommen die Ängste, die jeder kennt, da jeder einen Körper hat, mit all den Bildern zusammen, die eine geängstigte Menschheit für ihre conditio nur je gefunden hat.“
Maren und Marcelo Viñar sagen es so:
„Wir schlagen als Definition vor: Folter ist jedes absichtliche Vorgehen – was immer die verwendeten Methoden seien – das den Glauben und die Überzeugungen des Opfers zerstören und dieses seiner einzigartigen Identifikationsstruktur berauben soll, durch die es sich als Subjekt konstituiert.“
Sie zitieren den uruguayischen Psychoanalytiker, ihren Freund Daniel Gil, der es ähnlich ausgedrückt hat:
„Die Folter ist eine abgestuft voranschreitende, wissenschaftliche Demontage der komplexen primären Identifikation. Sie lässt den Gefolterten in Zustände extremster und nicht mehr in Worten fassbarer Ängste geraten und führt bis zur Zerstörung seines Ichs und seiner symbolischen Welt.“
Im Bericht eines argentinischen Arztes, 1978 in Buenos Aires von der Polizei verschleppt, weil er einem Nachbarschaftsrat angehörte, der sich für die baurechtliche Regelung einer Siedlung einsetzte, heißt es:
„Die lebhafteste und entsetzlichste Erinnerung aus dieser ganzen Zeit ist, dass ich fortwährend im Angesicht des Todes lebte. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr klar denken zu können. Ich versuchte verzweifelt, meine Gedanken mit irgend etwas zu beschäftigen, um zu spüren, dass ich noch am Leben und noch nicht verrückt geworden war. Gleichzeitig wünschte ich sehnlichst, dass sie mich so schnell wie möglich umbringen würden (…)
Mitten in all diesem Terror (…) brachten sie mich eines Tages wieder in den ?Operationssaal‘, wo sie begannen, nachdem sie mich wie immer gefesselt hatten, mir die Hoden umzudrehen (…) Ich habe niemals einen derartigen Schmerz verspürt (…) Ich wünschte, es würde ihnen gelingen, mir alles herauszureißen und mich endgültig auszuhöhlen. Dann verlor ich die Besinnung. Ohne zu wissen wie und wann, gelangte ich wieder zu Bewusstsein, und schon begann die Tortur von neuem. Und wieder fiel ich in Ohnmacht (…)
Die Folterer und Wächter behandelten uns für gewöhnlich, als wären wir Aussätzige. Wir waren wie Gegenstände – unnütze und lästige Gegenstände. Mit ihren eigenen Worten: ?Du bist Scheiße. Seit wir Dich hierher gebracht haben, bist Du ein Nichts. Außerdem erinnert sich schon niemand mehr an Dich. Du existierst nicht. Wenn jemand Dich sehen würde, was niemand tut – glaubst Du, dass man Dich hier suchen würde? Wir sind alles für Dich. Die Gerechtigkeit sind wir. Wir sind Gott.'“
„Wir sind Gott“, an diesen Satz denke ich oft. Er bezeichnet in aller Kürze und Präzision das „Projekt“, dem die Folterer und ihre Auftraggeber folgen: Gott sein. Und deshalb müssen sie alles daran setzen, andere zu einem Nichts zu machen. „Du bist ein Nichts.“
„Du bist ein Nichts.“ – „Wir sind Gott.“
Das gehört untrennbar zusammen.
Und es ein gesellschaftliches „Projekt“, nicht etwa nur der Wahn von ein paar Verrückten. Maren und Marcelo Viñar machen dies unmissverständlich klar:
„Dieses Muster nun stellt einen symbolischen Bezugspunkt für alle Mitglieder der Gesellschaft dar. Jeder einzelne ist der Drohung ausgesetzt. Denn die Ausführenden der Folter handeln als Agenten einer gewalttätigen Macht, deren Absicht es ist, die Gesellschaft zu unterwerfen und zu lähmen (…) Das soziale Netzwerk wird von dieser monströsen Logik infiltriert. Es geht bei weitem nicht nur um das, was offiziell behauptet wird, nämlich Informationen zu erhalten. Das Martyrium auch nur einer Handvoll von Opfern zeichnet die ganze Gemeinschaft, erzeugt Einschüchterung und Verängstigung, zerschneidet die mitmenschliche Verbundenheit, die sozialen Bindungen.“
Ähnlich hat es Jan Philipp Reemtsma gesagt: „Das Herrschen selbst – und damit alle Ziele, die in Herrschaftsverhältnissen verfolgt werden, vom Mehrwert bis zum sexuellen Missbrauch – braucht die Folter als Horizont von Möglichkeit. Es ist sehr einfach zu erklären: Wer herrscht, muss sicher sein, dass ihm gehorcht wird, dass nicht etwa freiwillig ein Bund mit ihm geschlossen sei (…) Solange die Möglichkeit der Freiwilligkeit nicht widerlegt ist, bleibt Herrschaft in den Augen derer, die herrschen, unsicher, kündbar. In der Logik von Herrschaft (liegt) die Folter als immer gegenwärtiger Horizont von Möglichkeit (…) (Es) ließe sich vielleicht zeigen, dass die Gesten der Herrschaft auch ihre eigene Geschichte zitieren, dass sie so oft ohne die Folter auskommen, weil die Drohung verstanden wird. Damit diese aber immer verständlich bleibe, ist es notwendig, dass anderswo mit dem Zitat sich nicht begnügt wird.“
Letztlich geht es um die Zugehörigkeit zur Menschheit. Wie diese ihnen gegenüber total aufgekündigt war, gerade das haben Überlebende der Nazi-Vernichtung wie Hermann Langbein, Primo Levi, Robert Antelme, Jean Améry dargelegt.
Sie haben Beispiele gegeben, sich nicht zu unterwerfen.
„Das individuelle Leid immer als individuelles, nie als ?Exempel‘ zu verstehen, gleichwohl wachzuhalten, dass der Anschlag stets auch weiter zielte, bleibt Aufgabe aller, die das Leid derjenigen, die Opfer der Folter geworden sind, zu mindern suchen.“