Jenseits von Pannwitz

Jürgen Müller-Hohagen

Im Zentrum einer bis heute wirksamen Ausklammerung steht die konkrete Wahrnehmung der bürokratisch organisierten Massenvernichtung durch die Nazis. Mögen wir noch so viel darüber gelesen, gehört, geforscht haben, so liegt doch ein Arsenal von Abwehrmanövern bereit, sobald dieser Bereich in einer Weise berührt wird, dass es direkt mit uns selbst oder unserem Gegenüber zu tun haben könnte.

Es geht um die Wahrnehmung der Vernichtung in der Einheit von Konkretem und Allgemeinem, von den abstrakten Zahlen bis zu den individuellen Menschen, die persönlich oder mit ihren Berichten oder denen der Zeugen vor Augen stehen, jetzt und hier – beklemmende, schwer aushaltbare, aber unumgängliche und immer nur Annäherung bleibende Wahrnehmung.

Es war die von „normalen“ Leuten akribisch geplante und durchgeführte physische Vernichtung von Millionen Menschen.

Und es war die diesen und allen anderen potentiellen Opfern erklärte Aberkennung der Zugehörigkeit zur Menschheit.

Letzteres wird oft übersehen, obwohl es eigentlich völlig klar war, seitdem Juden und Andere zu Schädlingen erklärt wurden. Überlebende der NS-Vernichtung haben dieses Thema sehr betont. So trägt Primo Levis berühmtes Buch den Titel Ist das ein Mensch? Immer wieder wird darin die Aberkennung der Zugehörigkeit zur Menschheit beschrieben, so etwa während einer Chemieprüfung durch den wissenschaftlichen KZ-Mitarbeiter Doktor Pannwitz.

„Zwischen Menschen hat es einen solchen Blick nie gegeben. Könnte ich mir aber bis ins letzte die Eigenart jenes Blickes erklären, der wie durch die Glaswand eines Aquariums zwischen zwei Lebewesen getauscht wurde, die verschiedene Elemente bewohnen, so hätte ich damit auch das Wesen des großen Wahnsinns im Dritten Reich erklärt.“

Beim KZ-Überlebenden Robert Antelme heißt es:

„Zu sagen, wir hätten damals das Gefühl gehabt, als Mensch, als Angehöriger der Gattung in Frage gestellt zu werden, mag wie ein Rückblick, wie eine nachträgliche Erklärung anmuten. Aber es war genau das, was wir damals unmittelbar und ganz schmerzhaft erlebten, und es war übrigens auch das, genau das, was die anderen wollten.“

Diese Dimension der Aberkennung der Zugehörigkeit zur Menschheit, diese Dimension totaler Vernichtung wahrzunehmen, fällt auch aus dem Abstand einiger Jahrzehnte schwer.
Nur selten wird reflektiert, dass diese beklemmende Thematik in Therapien auftauchen könnte und auf wie dünnem Eis wir uns hier bewegen. Denn genau genommen waren doch praktisch alle ehemaligen Volksgenossen beteiligt, sobald es für sie zur „Normalität“ gehörte, dass Menschen zu Ungeziefer erklärt wurden.

Dieses Nichtvorkommen des Vernichtungsthemas im therapeutischen Bereich beleuchtet auch, in welchem Maße hier Loyalitäten im Sinne unsichtbarer Bindungen zu den Nazi-Vorfahren zum Tragen kommen, und zwar bei den Therapeuten und Therapeutinnen ebenso wie auf der Klientenseite.

Und das spiegelt allgemeinere Verhältnisse wider.

Um Horizonte jenseits von Pannwitz anpeilen zu können, müssen wir erst einmal diese Realitäten wahrgenommen haben.