„Bis ins dritte und vierte Glied“ oder: „Ein Gebet, ein wirkliches Gebet kann ein ganzes Leben verändern“
Jürgen Müller-Hohagen
Seit längerer Zeit sind hierzulande Bereitschaft und Interesse in einer breiteren Öffentlichkeit gewachsen, sich in möglichst konkreter Weise mit der Nazizeit zu befassen. Was ist in unserem Ort damals vor sich gegangen? Wie stand meine Familie zum Nazi-System? In welcher Weise war mein Berufsstand damit verflochten? Wie sah Alltagsleben im „Tausendjährigen Reich“ aus? Was haben Menschen damals erlebt?
Das sind bewegende Fragen für Schülergruppen ebenso wie für Wissenschaftler oder Journalisten. Bürgeraktionen und Vereine zur Erforschung von Lokalgeschichte bringen längst vergessen Geglaubtes zum Vorschein. Industriefirmen, aber auch zum Beispiel psychotherapeutische Ausbildungsinstitute müssen sich nach ihrer Vergangenheit fragen lassen. Ältere Menschen fangen manches Mal gegenüber ihren Enkeln an, erstmals offener über ihre Erfahrungen aus dieser Zeit sprechen.
Aber dann tauchen auch Zweifel an dem Sinn solcher Unternehmungen auf: Was soll das alles nach so langer Zeit? Kann man die Vergangenheit nicht endlich ruhen lassen? Weicht man damit nicht vor der Auseinandersetzung mit den Belastungen der Gegenwart aus? Ist das nicht alles eine Modeerscheinung?
Ich halte es für voreilig oder geradezu engstirnig, wenn man solche skeptischen Stimmen pauschal als „ewiggestrig“ aburteilt. Man übersieht dann beispielsweise, dass nicht wenige Jugendliche nur wegen einer zu theoretischen oder abgehoben moralisierenden Behandlung der Nazizeit von diesem Thema nichts mehr hören wollen oder sich von rechtsradikalen Gruppen faszinieren lassen. Oder man verkennt noch Wichtigeres: Für Millionen auch heute noch lebender Menschen verbindet sich mit dem Dritten Reich unendlich viel an Leid, Entwurzelung, Verwirrung, Schuldverstrickung, ohnmächtigem Ausgeliefertsein oder im nachhinein unbegreiflich wirkendem Mitmachen. Das alles sind Erfahrungen von meist überwältigendem Charakter, mit denen nicht nur Individuen schwer umgehen können. Von daher ist es verstehbar, wenn viele Zeitgenossen von damals nur noch „vergessen“ wollen.
Zugleich steckt eine tiefe Problematik in solchem Verdrängen, denn das Abgewehrte wird dabei nur notdürftig beiseitegeschoben, wirkt untergründig weiter – und dies „bis ins dritte und vierte Glied“. Wir sind heute in der Situation, diese alte biblische Erfahrung an uns selbst kennen zu lernen, und zwar in bisher nicht für möglich gehaltenem Ausmaß.
Was ich an Spätfolgen der Nazizeit in meiner Arbeit mit Klienten erfahren habe, gibt allenfalls die äußerste Spitze eines Eisbergs wieder. Als Berater und Psychotherapeut lerne ich an Menschen auch sehr feine Nuancen kennen, und gerade diese sind es, in denen Verborgenes sich andeutet. Im Alltagsleben gehen wir meist darüber hinweg. Wir übersehen dann aber, dass vierzig Jahre in Wirklichkeit keine lange Zeit sind und wie zentral Erinnerung für uns ist sowohl im persönlichen Leben als auch im Austausch zwischen den Generationen. Dies gilt insbesondere für die noch heute und sicherlich auf lange Zeit überwältigende Erfahrung von Nazizeit aus dem ganzen Bereich von Verfolgung, Holocaust, Größenwahn und Alltagsleid, Entwurzelung durch Emigration, Flucht und Vertreibung, Verlust von Angehörigen oder eigener Gesundheit im Krieg wie bei der Bombardierung. Das alles soll nach wenigen Jahrzehnten „bewältigt“ sein?
Richard von Weizsäcker sagte hierzu in seiner Rede vom 8. Mai 1985: „Vierzig Jahre spielen in der Zeitspanne von Menschenleben und Völkerschicksalen eine große Rolle (…) Vierzig Jahre sollte Israel in der Wüste bleiben, bevor der neue Abschnitt in der Geschichte mit dem Einzug ins verheißene Land begann. Vierzig Jahre waren notwendig für einen vollständigen Wechsel der damals verantwortlichen Vätergeneration. An anderer Stelle aber (Buch der Richter) wird aufgezeichnet, wie oft die Erinnerung an erfahrene Hilfe und Rettung nur vierzig Jahre dauerte. Wenn die Erinnerung abriss, war die Ruhe zu Ende. So bedeuten vierzig Jahre stets einen großen Einschnitt. Sie wirken sich aus im Bewusstsein der Menschen, sei es als Ende einer dunklen Zeit mit der Zuversicht auf eine neue und gute Zukunft, sei es als Gefahr des Vergessens und als Warnung vor den Folgen. Über beides lohnt es sich nachzudenken.“
Angesichts der Nazizeit fällt solches Nachdenken ganz und gar nicht leicht. Davon kann ich mich selbst und meinen eigenen Werdegang nicht ausnehmen. Seit 1971 bin ich in meinem Beruf tätig, habe eigene Analyse und psychotherapeutische Zusatzausbildung hinter mir. Die Schrecken und die Abgründe des Dritten Reichs waren mir in Grundzügen bekannt, aber an meinen Klienten oder mir selber bemerkte ich davon lange Zeit nichts. Erst allmählich änderte sich das. Während meiner Tätigkeit am Kinderzentrum München und seit 1986 an der Evangelischen Erziehungs- und Familienberatungsstelle München-Nord wurde ich aufmerksamer für die Bedeutung traumatischer Erfahrungen in der persönlichen oder familiären Vorgeschichte. Gerade in der länger dauernden Arbeit mit Familien ging mir jenseits aller Theorie mehr und mehr auf, dass Probleme selbst heutiger Kinder in ungeahnter Weise unter anderem noch mit der Nazizeit zusammenhängen können. Wir haben dann 1987 von unserer Beratungsstelle aus eine Fachtagung für den Evangelischen Fachverband für Lebensberatung durchgeführt zum Thema: „Spätfolgen von Krieg, Gewaltherrschaft, Entwurzelung, existentiellen Bedrohungen – Familiendynamik im Spannungsfeld zwischen Abwehr und Bewältigung“.
Diese Tagung wurde als sehr wichtig empfunden. Schon bei ihrer Vorbereitung im Team haben wir uns eingehend mit unseren eigenen Ängsten und Fluchttendenzen angesichts derart belastender Themen befasst. Ohne solches Getragensein in der Gruppe wäre die schwierige Annäherung an die Spätfolgen der Nazizeit wohl kaum möglich gewesen.
Um die Auseinandersetzung mit schädigenden Formen des Vergessens geht es zentral in Psychotherapie und Beratung. Tagtäglich suchen wir Klienten und Familien dabei zu helfen, aus dem Schatten einer sie belastenden Vergangenheit herauszukommen und sich freier auf Gegenwart und Zukunft einzustellen. Von daher gibt es hier viele Erfahrungen und Möglichkeiten, die auch für die Auseinandersetzung mit der Nazizeit unerlässlich sind. Wir kennen uns aus mit Verleugnung und Verdrängung, wissen um ihre schädlichen Wirkungen, aber auch um ihre Funktion, Menschen zunächst vor einem Zusammenbruch zu schützen.
Dieses Wissen, diese Erfahrungen sind wichtige Hilfen für die Auseinandersetzung mit den Hintergründen aus der Nazizeit.
Allgemeine Ideologien haben heute viel von ihrer vermeintlichen Zauberkraft verloren. Orientierung aber wird weiterhin dringend gebraucht. Sie kann jedoch in einer immer komplexeren Welt nicht mehr so leicht von „oben“ verordnet werden. Der Blick auf unsere konkreten Lebensverhältnisse wird immer wichtiger, auf unseren individuellen Lebensweg, unseren jeweils einmaligen Erfahrungszusammenhang. Dazu gehört, dass wir nicht nur allgemein über Geschichte Bescheid wissen, sondern auch mehr begreifen von der Geschichte in uns. Und dafür wiederum ist zentral, was zwischen den Generationen vermittelt wird, wie es erfolgt, aber auch wie es aufgenommen wird.
Ich denke an Otto-Ernst Duscheleit, einen Waffen-SS-Mann, der lange geschwiegen hat. „Nach einem schrecklichen Traum vor einigen Jahren, in dem ich als Kriegsverbrecher und Nazischwein beschrieen wurde, begann ich, über meine Vergangenheit im ‚Dritten Reich‘ zu schreiben (…) Lange, sehr lange hat es gedauert, bis ich anfing, über meine Vergangenheit nachzudenken. Sechzig Jahre alt musste ich werden (…) Wie viele Bücher musste ich lesen, wie viele Gespräche führen. Der Traum kam ja nicht von ungefähr. Er war ein Meilenstein in einem Prozess aus vielen einzelnen, mich verändernden Erkenntnissen und Schritten.“
Es gibt immer die Möglichkeit, sein Leben grundlegend zu verändern, im Guten und im Schlimmen.
Otto-Ernst Duscheleit hat nachgedacht und sein Leben verändert. Es ist nie zu spät, dies zu versuchen. Doch viele wollen das nicht. Was schallte ihm entgegen bei einem Vortrag vor großem Publikum: „Verräter!“
Ich begegnete ihm bei einem Treffen von „Face to face“, einer von Mona Weismark und Ilona Kuphal gegründeten Begegnungs- und Gesprächsgruppe für Nachkommen von Überlebenden und von Tätern. Beide Seiten waren beeindruckt von ihm. Hier waren Abgründe ein wenig aufgefüllt.
Vor diesem Hintergrund bezeichne ich Otto-Ernst Duscheleit als ein Vorbild. Ein Waffen-SS-Mann als Vorbild? Ja, wenn er für Wandlung steht.
Ganz anders verhält es sich mit jemand anders, ebenfalls seinerzeit bei der Waffen-SS. Seine inzwischen 50jährige Tochter war seit längerem voll Ängstlichkeit bemüht, mit ihm ins Gespräch über die Nazi-Vergangenheit zu kommen. Dazu gehörte, dass sie ihm einen Zeitungsartikel über ein Massaker von Seiten der Wehrmacht schickte und ihn vorsichtig nach seiner Meinung fragte. Sein Antwortbrief ist lang, geht aber an ihren konkreten Fragen vorbei. Er beginnt so:
„Liebe Tochter, auch ich trage an der Schuld, die wir auf uns geladen haben. Es wird immer in Kriegen zu solchen Ausschreitungen kommen – danach gibt es leider immer wieder das ‚Wehe den Besiegten'“.
Im ersten Satz wird Schuld anerkannt, im zweiten Satz sofort relativiert, und im dritten ist alles nur noch eine Frage der Macht, werden die ehemaligen „Herren“ zumindest in die Nähe von Opfern gerückt. Dieser Brief steht für viele andere. Geschrieben hat ihn keine NS-Größe, sondern ein „winziges Rädchen der Maschinerie“, ein Waffen-SS-Mann, der nie über den Rang eines Unteroffiziers hinauskam. Einerseits betont er, von nichts gewusst zu haben, und dann weiß er in den folgenden Ausführungen des Briefes wie auch sonst gegenüber der Tochter doch alles besser. Seine Sicht hat als die korrekte zu gelten, eine andere erkennt er nicht an.
Angesichts solcher „Haltungen“, die bis heute keine Seltenheit darstellen, sind Blicke von außen wichtig. Der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch sagte bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 1993: „Das Dritte Reich liegt nicht schon, sondern erst fünfzig Jahre hinter uns. Hitler hat sich und das deutsche Volk unsterblich gemacht. Er wollte ja das Tausendjährige Reich und hat es bekommen (…) Auch die Untaten eines Nero leben weiter, und die liegen fast 2000 Jahre zurück.“ Das ist ein nüchterner Blick auf eine Wirklichkeit, deren Gewicht sich bis heute schwer aushalten lässt, und zwar für die verschiedenen Generationen. Gerade deshalb hebe ich jemanden wie Otto-Ernst Duscheleit als Vorbild hervor.
Ein „einfacher“, sehr lebenserfahrener Mann in einem kleinen italienischen Dorf sagte mir in einem Gespräch ganz unvermittelt über seine Nachbarin, eine Frau von mehr als 80 Jahren: „Gestern habe ich die Anna auf ihrem Balkon beten sehen. Ein Gebet, ein wirkliches Gebet kann ein ganzes Leben verändern.“ So wie er das sagte, mit Bezug gerade auf diese Frau, die viel Schuld auf sich geladen hat, war das von herausgehobener Bedeutung. Deshalb denke ich immer wieder daran.
Ältere Menschen meinen des öfteren, die Jüngeren seien verständnislos und würden zu sehr auf Verfehlungen von Eltern oder Großeltern beharren. Dies kann besonders heikel sein, wenn Abgründe aus dem „Dritten Reich“ mitbeteiligt sind. Und doch wird nach meiner Einschätzung vielfach übersehen, wie viel an Gesprächsbereitschaft es bei den jüngeren Generationen gibt. Dafür steht ein Brief, den mir eine Frau nach dem Tod ihres Vaters schrieb, der solch ein Gespräch beharrlich abgelehnt, das „Gebet“ nicht gewagt hatte. Er hatte ihr viel angetan, und doch bemühte sie sich bis zuletzt um ihn.
„Ich hätte meinen Frieden lieber mit einem lebenden Vater gemacht. Was hat er sich da selber genommen, ich hätte ihm verzeihen können, ehrlich. Nicht so leicht dahin und ohne irgendwas, sondern ehrlich. Danach habe ich beschlossen, sein Photo aufzustellen, ein sehr gutes von ihm und von mir, es strahlt Ratlosigkeit von meiner Seite und Verschlossenheit seinerseits aus.“
Jenes „Gebet“ zu wagen, dafür genügt es nicht, über ein blindes „Vertrauen“ auf den „Herrgott“ zu „verfügen“. Vielmehr erfordert es eine erhebliche Portion an kritischem Betrachten seiner selbst. Solche Selbstreflexion ist nicht unbedingt eine „typisch deutsche Tugend“. Doch gerade der Mensch, der sie in diesem Jahrhundert wohl weltweit am entschiedensten vorangebracht hat, gehörte eben diesem deutschen Kulturkreis an: Sigmund Freud. Deshalb wurde er missachtet und verleumdet – und auch weil er Jude war. Die Nazis im jubelnd „angeschlossenen“ Wien drangsalierten ihn, und er musste noch als alter Mann nach London emigrieren. In meiner Kindheit und Jugend allerdings hörte ich über ihn nichts weiter als dies: „Freud, das ist doch der, bei dem alles nur Sexualität ist.“
Selbstreflexion und Dialog bedingen einander, sind zwei Seiten einer Medaille. Um über mich nachdenken zu können, brauche ich den anderen. Um ihn wahrnehmen zu können, muss ich ihn von mir zu unterscheiden gelernt haben, muss ich mich selber einigermaßen kennen.
Wenn hier auf deutsche Geschichte verwiesen wird und insbesondere auf die des Nazi-Reichs, dann weiß ich natürlich sehr wohl, dass sie zugleich Teil der europäischen und der Weltgeschichte ist. Und Deutsche sind nicht die einzigen gewesen, die Verbrechen riesigen Ausmaßes begangen haben. Und es hat darüber hinaus ein besonderes Gewicht, dass nach 1945 in weiten Teilen der Erde weitergemordet wurde und wird und dass für viele Gewaltige dieser Welt nicht einmal die beispiellosen Nazi-Verbrechen eine Mahnung bedeuten, eher oft das Gegenteil. Doch das alles ändert nichts Entscheidendes an der Stellung des Nazi-Reichs in der Geschichte. Und außerdem: Selbstreflexion fängt nun einmal bei einem selbst an. Dies gilt in Deutschland ebenso wie anderswo.
Wir stehen vor der Wahl:
„Bis ins dritte und vierte Glied…“ und noch viel länger.
„Ein Gebet, ein wirkliches Gebet kann ein ganzes Leben verändern.“