Wirkungen von gestern Geschehenem auf heutige Erlebnisse – vermeidbar oder nicht?

Henk Jan Kater

Der Titel dieses Berichts deutet eine bestimmte Hoffnung an, und es werden erfolgreiche Entwicklungen geschildert werden, die trotz KZ-Haft möglich wurden. Ich hoffe, am Ende verstehen Sie, wieso ich diesen Titel gewählt habe.

Jürgen Müller-Hohagen und seine Gattin Ingeborg haben mich gebeten, einen Bericht über meine Vergangenheit zu schreiben. Ich will es gerne machen, aber eigentlich ist mir das zu wenig. Ich möchte nämlich nicht immer bei der Vergangenheit stehen bleiben, sondern auf das Heute und die Zukunft fokussieren.

  • Damals
  • Heute (und Zukunft).

Deswegen kann man meine Darstellung in zwei Hauptrichtungen sehen:

Es ist ein Ego-Dokument geworden.  Dieser Art von Schreibtechnik bediene ich mich eigentlich nicht so gerne – nicht weil es zu nah sein könnte, sondern eher, weil ich als Leser eines Berichts in der Ichform immer ein unheimliches Gefühl von Voyeurismus bekomme. Gänsehaut und andere alberne Gefühle hindern mich dann, weiter zu lesen. Meistens schreibt man voll Stolz, was man erreicht hat, ohne sich an Wahrheit und Dichtung zu stören. Ein bekannter Fallstrick, den man vermeiden sollte.

Jürgen Müller-Hohagen hat mich gebeten, weil man in Deutschland sehr wenig über den Zweiten Weltkrieg in anderen Teilen der Welt weiß. Natürlich ist man im Großen und Ganzen ungefähr informiert über die Schandtaten der Nazis. Aber diese Schandtaten sind universell. Jeder Mensch ist im Stande, Verbrechen gegen die Menschheit zu begehen.

Nachdrücklich schreibe ich jeder Mensch, nicht nur deutsche Nazis. Auch Holländern kann man Übeltaten nachweisen, ebenso Russen, Amerikanern und so weiter. Ich werde mich in diesem Artikel auf Japaner beschränken. Ich bin nämlich nicht in Europa geboren, sondern in einer holländischen Kolonie. In Holland nennen wir sie Nederlands-Indië. Sie hat sich nach den Krieg freigekämpft und heißt jetzt Indonesien.

Der Zweite Weltkrieg ging über Europa, Afrika und Nord-Amerika noch hinaus. Deutschland hat sich in einer Achse nicht nur mit Italien, sondern auch mit dem fernen Japan verbündet.

Mein Artikel wird den Zweiten Weltkrieg im Licht der japanischen Besetzung von Niederländisch Indien betrachten. Er basiert zum Teil auf einer Arbeit, die ich 1985 in der „Nederlands Tijdschrift voor Geneeskunde[1]“ publiziert habe. Das ist eine bekannte wissenschaftliche Zeitschrift für Medizin.

Vergangenheit und immer noch so nah

Ich bin einige Wochen vor dem Weltkrieg geboren. Unser Weltkrieg begann mit dem 7. Dezember 1941, dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour. Gerade an diesem Tag bin ich von meinem Vater getauft worden. Mein Vater war Pfarrer.

Anfang 1942 haben die Japaner Java erobert, und sofort sind fast alle Nicht-Einheimischen in Lager verschleppt worden. 

In einer Untersuchung hat man berechnet, wie viele niederländische Kriegsgefangene im pazifischen Raum von den Japanern eingesperrt wurden. Es sollen mindestens 100.000 gewesen sein.[2]

Natürlich ist diese Zahl niedriger, als man anderswo gewohnt ist – in Europa sind ja Millionen verschleppt, gefoltert und ermordet worden.

Insgesamt war die Zahl der japanischen Kriegsgefangenen weit höher als jene 100.000: Amerikaner, Engländer, Chinesen, Koreaner und viele andere Nationalitäten.

Wegen des Berufs meines Vaters ist meine Familie erst ein und ein halbes Jahr später inhaftiert worden. Die Gefangenen waren keine „normalen“ Gefangenen, sondern Kriegsgefangene – aber ohne den Schutz des Genfer Abkommens. Meine Familie bestand aus Vater, Mutter, einer älteren Schwester, einem älteren Bruder und mir.

Wir sind in Tjideng interniert worden, das war ein Wohnviertel in Batavia (Jakarta), eingerichtet als Frauenlager mit ungefähr 10.000 Insassen. Die Insassen waren nur Frauen und Kinder bis zur Pubertät (zwischen 10 und 13 Jahren).

Nur wenige Männer waren in Tjideng. Mein Vater war Pfarrer, und wegen seiner seelsorgerlichen Arbeit durfte er bei uns im Lager sein. Ein Jahr hat er mit uns verbracht, dann ist er von dem japanischen Lagerkommandanten in ein Männerlager gesteckt worden. Das war für Männer und für Buben von 10 bis 13 Jahren.

Mein Vater ist dorthin gebracht worden, weil er seine seelsorgerliche Arbeit immer noch ausgeübt hatte. Von Seiten der japanischen Behörden war das verboten. Am Anfang war es meinen Vater gestattet, seine Tätigkeit auszuüben, aber bald haben die Japaner es untersagt, weil Gottesdienste immer mehr als Äußerungen von westlichen Ideologien und Lebensweisen betrachtet wurden.

Der Lagerkommandant Sonei ist unter noch lebenden ehemaligen Insassen bis heute berüchtigt. Er war damals sehr gefürchtet. Viele sehen ihn als eine Bestie an, einen Unmenschen. Das stimmte auch, obwohl es vielleicht eine Unverschämtheit ist, Tiere mit ihm zu vergleichen.

Ich schreibe mit einem gewissen Zögern vielleicht, weil etwas Unglaubliches passiert ist, nachdem mein Vater schon weggebracht worden war. Zur gleichen Zeit ist nämlich auch meine Muter mit uns drei Kindern „bestraft“ und in eine Art Zelle gesperrt worden. Dort bin ich krank geworden. Ich bekam Hirnhautentzündung, und meistens wurden Kranke mit solch schweren ansteckenden Krankheiten so schnell wie möglich getötet. Oder man starb auf jeden Fall, weil es keine Medikamente für die Insassen gab.

Die Japaner haben mich bei Nacht und Nebel abgeholt, und für meine Mutter konnte es nur noch so aussehen, dass ich sterben sollte.

Meiner Meinung nach war ich aber der erste Gefangene, jedenfalls in diesem Lager, der ein Arzneimittel gegen diese gefürchtete Krankheit bekam – persönlich veranlasst vom Lagerkommandanten.

Hätte er es nicht getan, wäre ich jetzt sicher tot und nicht in der Lage, diesen Bericht zu verfassen. Ich finde es immer noch eine unglaubliche Geschichte, und es bestärkt mich in der Meinung, dass Menschen im Stande sind, furchtbare Sachen zu verüben und gleichzeitig mitmenschlich zu handeln.

Wieso Sonei sich so verhalten hat, ist mir immer noch unklar. Vielleicht hatte er eine gewisse Angst vor einer ihm unbekannten Gottheit oder einen bestimmten Respekt gegenüber meinem Vater? Ich weiß es nicht und möchte gern einmal näher in Erfahrung bringen, wer Sonei war, und vor allem, wieso er solch ein berüchtigter Kriegsverbrecher geworden ist.

Jedenfalls bin ich der erste und, wie andere behaupten, sogar des letzte Gefangene gewesen, den Sonei so gerettet hat.

Mein Vater war für uns verschwunden und meine Mutter glaubte, dass man ihn ermordet hatte. Wir haben nicht gewusst, dass er im Süden Javas beim Eisenbahnbau arbeiten musste. Der Bruder meiner Mutter war in Birma gefangen.

Aus der Lagerzeit kann ich mich noch an Vieles erinnern. Kernwörter dazu sind: die Unfreiheit, die Angst, der Hunger und die Krankheiten.

Ich habe fast alle tropischen Krankheiten überlebt und weiß noch ganz genau, wie ich sechs Mal im Sterben gelegen bin.

Entweder war ich stark, oder ich bin ein unglaublicher Glückspilz: Ich habe alles überlebt.

Im Lager herrschte dauernd Hungersnot. Es war den Japanern völlig gleichgültig, ob die Gefangenen starben oder nicht. Auch sauberes Trinkwasser gab es kaum. Von daher kenne ich Hunger und Durst, vielleicht fällt es mir deswegen nicht schwer zu fasten, wenn ich heue mal Bauchschmerzen habe – ein Überrest aus dem Lager.

Die Angst ist immer bei mir geblieben, und ich kämpfe immer noch gegen Unfreiheit und Ungerechtigkeit.

In diesen Artikel wird klar, was mir die Erfahrungen von Unfreiheit eingebracht haben und wie ich damit umgegangen bin.

Der Krieg endete offiziell am 15. August 1945. Wir haben es an diesem Tag leider nicht mitgekriegt, denn gleichzeitig haben die Indonesier ihren Freiheitskampf gestartet, und wir sind durch die Japaner gerettet worden. Ohne den Schutz unserer Besatzer und Quäler hätten wir es niemals überlebt.

Es hat noch fast ein halbes Jahr gedauert, bis wir nach Holland abfahren durften.

Mein Vater ist per Anhalter von seinem Lager auf Süd-Java nach Batavia gekommen und war einer der ersten Männer, der in unser Lager zurückgekommen ist. Er war wie wir alle sehr abgemagert und hat ebenso viele Krankheiten überlebt.

Wir alle haben viele Krankheiten überstanden, das Leben im KZ-Lager war schmutzig, und es gab immer viel zu wenig zu essen.

Glücklicher Weise haben wir alles Elend überstanden.

Weil wir obdachlos in Holland ankamen und mein Vater noch keine Stelle erhielt, haben wir einige Monate bei meinen Großeltern gewohnt. Auch sind wir von der Schweizer Kirche eingeladen worden, uns in Adelboden von der ganzen Not zu erholen. Dort habe ich endlich die Freiheit bis in alle meine Fasern gespürt, und seitdem nenne ich mich einen Wahlschweizer, nur mit niederländischem Pass.

Waren wir damals eigentlich willkommen im eigenem Land? Das ist zumindest fragwürdig: Die Niederlande waren im Wiederaufbau, und man hat uns immer wieder angedeutet, dass es in Holland viel schlimmer war als in den Tropen. Wir durften nicht über unsere Erfahrungen reden, das heißt: Wir sollten nur reden über die schlimmen und schrecklichen Sachen, welche in Holland geschehen waren.

Ich lernte in der Schule immer über den Widerstand gegen den Faschismus, und man vergaß dabei, dass man in Holland prozentual von allen besetzten Ländern die meisten Mitläufer und sogar die meisten Mitglieder der SS zählte. In Holland sind auch prozentual die meisten Juden deportiert und ermordet worden.

Daheim haben wir auch nie über unsere eigenen Erlebnisse gesprochen. Es gab eine Art von Codierung, die man als kryptisch bezeichnen kann. Nach dem Krieg ist mein jüngster Bruder geboren und er hat sicherlich unter dieser conspiracy of silence gelitten.

Ich glaube, er hat am meisten darunter gelitten, weil er keine eigenen Anknüpfungspunkte hat. Wir haben nicht darüber geredet, und er konnte nicht wissen oder ahnen, was damals passiert war und welchen Einfluss es auf uns ausgeübt hat.

Die „Indische Gruppe“ hat immer noch Schwierigkeiten dabei, einen deutlich sichtbaren eigenen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Wir haben stets sehr wenig Mitgefühl bekommen und eigentlich auch keine Wiedergutmachung. Die niederländische Regierung hat schon vor Jahrzehnten alle Ansprüche aufgegeben und Japan im Wesentlichen geschont. Die Japaner haben sich de facto nie entschuldigt – im Gegenteil sind sogar Kriegsverbrecher auf Heldenfriedhöfen beerdigt worden, und Berichte über extrem brutale Schandtaten wie die Ermordung von 300.000 Chinesen in Nanking während der dreißiger Jahre werden von offiziellen Behörden auch im 21. Jahrhundert als infame Lügen betrachtet.

Hier sieht man schon seit Jahrzehnten wirklich große Unterschiede zu den deutschen Regierungen.

 In der Schule konnte ich mich nicht konzentrieren. Ich langweilte mich, ich habe alle Lernstoffe uninteressant gefunden – nicht weil ich zu intelligent oder hochbegabt war, sondern weil ich wirklich überhaupt kein Interesse hatte. Ich war eigensinnig, starrköpfig, störrisch.

Ärger mit Lehrern war tägliche Routine. 1956 hat ein Psychologe einen Bericht über mich geschrieben: „Er benimmt sich aus menschlichem Unvermögen wie eine Marionette und lässt sich von seiner Umgebung führen, aber die angefangenen Bewegungen werden dann – genährt von eigener Fantasie und Energie – auf groteske Art vergrößert.

Natürlich hatte diese Dehumanisierung auch Einfluss auf den kognitiven Bereich. Der Bericht stellte weiter fest: „Er ist intelligent; er beobachtet scharf, er verfügt über Ursprünglichkeit, aber es fehlt ihm an der Möglichkeit, seine Kapazitäten in positiver Weise fruchtbar zu machen. Das unterentwickelte Gefühlsleben bedeutet eine schwere Beeinträchtigung – speziell für gymnasiale Bildung. Das Exakt-Mathematische gibt ihm Stütze, er wird damit klar und ruhig. Sprache ist Kommunikation und deswegen besonders widerstandsbehaftet.

 Vielleicht stimmte diese Aufzählung, jedenfalls traf sie für meine Schulsituation in der Sekundarstufe zu. Ich erwarb am Ende nur einen Abschluss auf ziemlich niedrigem Niveau, und auch dafür hatte ich drei Jahre auf einem Internat zubringen müssen.

Interessant ist es, meine weitere Karriere zu betrachten. Ich habe dann eine Hochschule absolviert und bin Lehrer geworden. In den Abendstunden habe ich mich weitergebildet, und deswegen darf ich mich Erziehungswissenschaftler nennen. Ich habe nachher als Lehrerberater gearbeitet und eine Schulberatungsstelle für die Sekundarstufe in Enschede gegründet. Am Anfang waren es zehn Schulen, nach einigen Jahre haben zwölf von dreizehn Sekundarschulen meine Dienste in Anspruch genommen. Schulberater und Lehrerberater erwerben riesige kommunikative Fähigkeiten, das heißt, ich war immer mit Sprache und Kommunikation beschäftigt. Und eigentlich war ich das in meinem ganzen Leben, trotz psychologischem Gutachten in den fünfziger Jahren!

In Holland haben wir Schulen mit verschiedenen Arten von Trägern: Gemeinde, Allgemein, Katholisch und Evangelisch.

Allgemein heißt bei uns, dass der Träger einer solchen Schule nicht einem Glauben, einer Stadt oder Gemeinde angehört.

Um mit dieser Verschiedenheit an Überzeugungen und Glaubensrichtungen arbeiten zu können, muss man in flexibler Weise kommunikativ sein.

Aber ich werde wieder auf meine Vergangenheit zu sprechen kommen. Für den Wehrdienst war ich 1966 nicht geeignet. Ein psychiatrisches Gutachten während meiner Wehrdienstzeit führte zur Entlassung aus der Wehrpflicht. Der Psychiater erklärte, ich sei der Erste, der in den Niederlanden wegen Erfahrungen in einem japanischen KZ entlassen worden ist. Damals waren schon viele vorzeitig entlassen worden wegen deutscher KZ-Haft.

Einige Wochen vor dem Wehrdienst habe ich geheiratet, eine Ehe, die siebzehn Jahre dauerte und in einer Scheidung endete.

Immer habe ich wirklich geglaubt, das KZ-Lager ohne Brüche überlebt zu haben, auch wenn ich für den Wehrdienst nicht geeignet war. Nur konnte ich manchmal nicht fernsehen, sobald das Elend in den Sahel-Ländern oder in Indien gezeigt wurde. Speziell Kinder mit Hungerödem und ganz geschwollenen Bäuchen waren mir zuviel. Serien wie Holocaust waren für mich Tabu. Ich konnte das nicht anschauen, und ich ärgerte mich, wie vollgefressen die Hauptdarsteller waren.

Am 4. Mai jeden Jahres wird in den Niederlanden an den Krieg erinnert. Als ich jung war, dachte ich beim Totengedächtnis nur an das Elend in Holland. Eigenes Leiden habe ich immer weggeschoben, psychologisch war ich fabelhaft programmiert worden. Aber je älter ich wurde, umso schwerer fiel es mir. Wieso war meine Geschichte weniger wichtig oder sogar unwichtig? Wieso mussten wir uns immer ruhig halten und nichts sagen? Erst seit ungefähr zehn Jahren spricht man endlich offiziell über das Elend im pazifischen Raum. Im Radio und Fernsehen werden wir endlich nicht mehr weggeschoben.

Für mich kam es im Jahre 1982 zu einem Bruch. Ich bin im Frühsommer von mehr als fünfzig Bienen gestochen worden, und im Spital sind alle tief versteckten Erinnerungen hochgekommen, speziell alle Male, wo ich fast gestorben bin. Ich schmeckte und roch wieder den Geruch von Leichen, von Dysenterie, ich hörte das heftige Schreien von Frauen, ich spürte Unfreiheit und Wut.

Ich entschloss mich, damit fertig zu werden. Ich wollte mich nicht im Elend baden und jedem zeigen, wie schlimm es war und wieviel Leid über mich geschüttet war.

Ich wollte leben.

Ich habe im aller Stille nach einer adäquaten Psychotherapie gesucht. In der Zwischenzeit haben meine Frau und ich uns getrennt. Ich suchte eine Therapie, wo ich an meinen speziellen Problemen arbeiten konnte. Die meisten Therapeuten waren damals nicht recht geeignet, um der Indischen Gruppe zu helfen. Man wusste alles von deutschen KZ-Lagern und auch von der „Endlösung“, aber man war wirklich professionell blind gegenüber den japanischen KZ-Lagern und den damit zusammenhängenden Problemen.

Erst nach ein und einem halben Jahr habe ich eine gute Therapeutin gefunden, doch gleichzeitig musste ich dafür einen Kampf mit meiner Krankenversicherung führen. Man erkannte die Probleme nicht an. Nur wer in Deutschland gelitten hat, hat alle Rechte. Ich habe den Kampf mit dieser Versicherung gewonnen und war damit bei ihr der erste Niederländer, dem man eine Psychotherapie wegen posttraumatischer Stressstörungen bezahlte, die durch ein japanisches KZ verursacht waren.

Um alle Bilder, Gedanken und Gefühle in den Griff zu bekommen, habe ich mich krankmelden müssen.

Leider habe ich deswegen einen anderen Kampf verloren. Mein Job als Gründer und Hauptverantwortlicher der Schulberatungsstelle in Enschede war unmöglich geworden – einer meiner Mitarbeiter hatte seine Finger nach meinem Posten ausgestreckt und mit blöden Beschuldigungen, infamen Lügen und beleidigendem Klatsch suchte er sein Ziel zu erreichen. Es ist ihm schließlich nicht gelungen, aber damals war ich deswegen so am Ende, dass ich frühpensioniert worden bin.

Das geschah auf eigenen Wunsch, nachdem klar geworden war, dass übermäßige Belastungen für mich zu anstrengend geworden waren. Nach ein und einem halben Jahr bitteren Kampfs für Gerechtigkeit, wobei sogar direkter Zwang ausgeübt worden ist, habe ich es selber so beschlossen.

In diesem Text habe ich versucht, die Vergangenheit zu schildern und zu zeigen, dass einem die Vergangenheit immer sehr nah sein kann.

Später merkte ich immer mehr, dass es interessanter ist, gegen die Vergangenheit zu kämpfen, statt regungslos oder sogar ohne Ruder zu bleiben.

Das Leben ist eine Herausforderung, die man annehmen muss.

Man lebt glücklicherweise nicht nur in einem Gestern, sondern eigentlich nur in einem ständigen Heute. Mit diesem Gedanken lässt es sich sehr gut leben, und man erreicht damit mehr eklatante Erfolge, statt immer deprimiert zurückzublicken.

Man lebt glücklicherweise nicht nur in einem Gestern, sondern eigentlich nur in einem ständigen Heute.

Ich habe aus einen psychologischen Bericht zitiert, in dem gestanden ist, ich wäre nicht im Stande, ein gutes Gefühlsleben zu entwickeln, und dass ein unterentwickeltes Gefühlsleben ein schweres Handicap sei – speziell für gymnasiale Bildung. Das Exakt-Mathematische werde mir Stütze geben. Der Psychologe behauptete 1956, dass ich mit exakt-mathematischen Angelegenheiten klar und ruhig werde. Auffallend ist die Aussage: Sprache ist Kommunikation und ist deswegen besonders widerstandsbehaftet. Ich glaube, der Psychologe hatte damals in gewissem Sinne recht. Aber ich bin in meinem ganzen Leben immer mit Sprache beschäftigt gewesen. Vielleicht ist so etwas genetisch vorbestimmt (Großvater und Vater waren Pfarrer), ich denke aber eher an ein starkes Interesse für menschliches Verhalten.

Ich bin von Natur aus immer lernbegierig, wie Menschen miteinander leben, und sicherlich auch, wieso man so viel Ärger miteinander haben kann.

Ich empfinde mein Leben deswegen als ein ständiges Heutigentages-Erleben, sicherlich von der Vergangenheit beeinflusst, aber zum Glück nicht durch sie verhindert.

Deswegen ist mein ganzes Leben eigentlich ein Erfolg trotz KZ-Lager geworden.

2002 habe ich einen Doktorarbeit erworben[3]. Das Thema war, wieso Menschen bei schweren posttraumatischen Stressstörungen (PTSS) oft nicht mehr die richtigen Wörter finden und verwenden können, um ihre Gefühle, ihr Leiden oder was immer mit Worten zu beschreiben.

Schon wieder geht es hier um Sprache und damit schon wieder um Kommunikation.

Ich glaube, dass extreme Traumatisierungen zu einer Beschädigung der Alltagsfunktionen führen können, dies als Folge von Kodierungs- und Dekodierungsproblemen.

Dies kann sicherlich auch zu sozialer Isolierung führen, weil konkrete Äußerungen das subjektive Erleben nur fragmentarisch und inadäquat auszudrücken vermögen. Im Ausmaß der Isoliertheit liegt der entscheidende Faktor, ob wechselseitige Verständigung möglich wird. Je größer jene aufgrund einer Beeinträchtigung der verbalen Kommunikation ist, umso geringer sind die Aussichten, dass es zu einer adäquaten Verständigung kommt.Ich habe in meiner Dissertation den Begriff Affektiv-Emotionaler Codierungs-Fehler (AECF) eingeführt. Je geübter jemand im Gebrauch der Sprache ist, umso stärker wird die Sprache eine regulierende Bedeutung haben. Im Falle einer gewaltsamen Unterbrechung fällt diese regulierende Wirkung teilweise weg.

Das ist der Grund, warum AECF im Wortfindungsprozess auftreten kann.

Mit AECF meine ich eine linguistisch-psychologische Diskrepanz zwischen einer existenziell-emotionalen Erfahrung und der Fähigkeit des Subjekts, diese in Worten zu beschreiben; das beinhaltet insbesondere die Unfähigkeit, die subjektive Bedeutung des Ereignisses auszudrücken.

Ich bin überzeugt, dass man im psychotherapeutischen Bereich diesen AECF berücksichtigen muss, um adäquate Therapie zu ermöglichen.

Als ich diesen Bericht verfasst und abschickt habe, dachte ich wirklich, ich habe nichts vergessen. Jedenfalls nicht mit Absicht. Dann habe ich ihn mit Vorschlägen und Nachfragen wegen Unklarheiten von Jürgen Müller-Hohagen zurück bekommen, und plötzlich merkte ich, ich habe einige hochwichtige Life-Events vergessen. Nicht mit Absicht, aber trotzdem.

Während unserer Ehe haben wir nämlich vier Kinder gehabt. Das erste Kind war ein Sohn namens Jan Paul. Er war in Steißlage geboren und hat während der Geburt eine schwere Gehirnblutung erlitten. Nach einer Viertelstunde ist er gestorben.

Nach ihm haben wir einen prachtvollen Sohn bekommen, David. Ein und ein halb Jahre später ist Marianka, unsere Tochter, geboren. Sie hat zu viele Geburtsfehler gehabt und ist trotz mehrerer schwerer Operationen nach neun Tagen gestorben.

Glücklicher Weise ist nach Marianka noch ein Sohn geboren, er heißt Jente.

Der Verlust von Kindern ist immer schwer; bei mir war es noch schlimmer zu ertragen, weil ich schon im Voraus wusste, was passieren würde. Nicht nur was, sondern auch, wann und wie.

Über diese Erfahrungen und Empfindungen habe ich damals nicht sprechen können.

Ich habe später nicht nur den Begriff des Affektiv-Emotionalen Codierungs-Fehlers formuliert, sondern ich kenne ganz persönlich die Auswirkungen dieses Fehlers leider sehr genau.

Trotz allem glaube ich, dass man ein Schicksal (wie ein KZ-Lager) buchstäblich überleben kann. Nicht nur nacktes Überleben, sondern man kann auch im Stande sein, nachher noch ein ganz neues Leben aufzubauen. Dafür braucht man außer Selbstvertrauen auch Hilfe von anderen Mitmenschen.

Man lebt heute und sollte immer mehr auf die Zukunft ausgerichtet sein und weniger auf die Vergangenheit.

Goor, November 2003


[1] H J Kater, „Niemandsland als Vaterland“, Nederlands Tijdschrift voor Geneeskunde,  1985: 129; Nr. 32, Seite 1550-1553.

[2] Anonymus. Aantallen vervolgingsslachtoffers 1940-1945. Nederlands Tijdschrift voor geneeskunde 1985: 129, 842

[3] Henk Jan Kater. Het voorkomen van benoemingsproblemen bij posttraumatische stressstoornissen – een taalpsychologische bijdrage aan de analyse van posttraumatische stressstoornis. UvA, Cargadvice/Goor, 28-10-2002