Psychotherapie im 20. Jahrhundert

Jürgen Müller-Hohagen

Einige Aspekte

  1. Das 20. Jahrhundert war das Jahrhundert der Psychotherapie. An seinem Beginn wurden die Grundlagen zu all den vielfältigen Formen von Psychotherapie gelegt, die wir heute kennen. Genau 1900 veröffentlichte Sigmund Freud sein bahnbrechendes Buch über die Traumdeutung, bahnbrechend in seinen Aufschlüssen zum Traum selber, in seiner neuartigen theoretischen Konzeption und in den therapeutischen Perspektiven. Sein Werk insgesamt entwickelte seitdem einen einzigartigen Charakter, bringt bis heute Wissenschaftstheoretiker in Schwierigkeiten, die Psychoanalyse einzuordnen, erregte heftigsten Widerspruch und begeisterte Zustimmung, gewann international großen Einfluss in Alltag, Gesellschaft, Wissenschaften, macht, jedenfalls in meiner Sicht, weiterhin das Zentrum aus im weiten Feld der kaum noch überschaubaren Psychotherapieformen. Es hat auch am Ende dieses Jahrhunderts nichts an Aussagekraft eingebüßt, vorausgesetzt, wir erlauben uns einen einigermaßen selbstbewussten Umgang mit diesem monumentalen Werk, ohne andererseits seine Vielschichtigkeit zu verkürzen.
  2. Psychotherapie ist heute, allen weiterbestehenden Vorurteilen zum Trotz, etwas ganz Normales geworden in der entwickelten westlichen Welt, ein Massenphänomen geradezu. Sie ist längst nicht mehr wegzudenken aus unserem so überwältigend komplizierten und unüberschaubaren Leben. Die Individualisierung in den hochentwickelten Gesellschaften, also der Wegfall klarer und verbindlicher Normen zugunsten ständig vergrößerter Wahlmöglichkeiten und -zwänge, würde uns der massenhaften Verzweiflung überantworten, hätten wir nicht die verschiedensten Möglichkeiten von Therapie und psychosozialer Beratung zur Verfügung. All das, was inzwischen dem Individuum aufgetragen ist an eigener Sinnstiftung, an eigener Herstellung seines Lebensplans, seiner Biographie, hängt hinsichtlich des Erfolgs wesentlich davon ab, ob wir uns überhaupt auskennen im „eigenen Haus“, ob wir mit Störungen umzugehen vermögen, ob wir zwischen alten und neuen Lasten, zwischen Einschränkungen aus der Vergangenheit und Aufgaben im Heute zu differenzieren wissen, ob wir uns in der Pluralität unserer Persönlichkeitsanteile und in der Vielfalt unserer Außenbezüge zurechtfinden. Seelische Einschränkungen, mit denen früher gut zu leben gewesen wäre, können heute unseren Lebensweg ruinieren. Psychotherapie und Beratung sind dabei nicht mehr wegzudenkende Hilfen.
  3. Die Haltung, die Freud in den Jahren vor der Veröffentlichung der „Traumdeutung“ entwickelt hatte, war wesentlich bestimmt von Aufdecken, von Schauen hinter die Tabus, von Erkennen überhaupt erst einmal der Tabus, von Sichtbarmachen vielfältiger Illusionen. Immer wieder verwies er darauf, dass die psychoanalytische „Kur“ nicht ohne Schmerzen abgeht, und er verglich sie mit der Arbeit eines Chirurgen. Er erforschte die Widerstände, die solchen Operationen geradezu notwendigerweise entgegengebracht werden, er erforschte, wie mit ihnen umgegangen werden kann, und erkannte auch die in ihnen zugleich verborgenen Mitteilungen und Wünsche.
  4. Solche Widerstände waren nicht nur bei den Individuen zu beobachten, sondern sie bestimmten auch wesentlich die Resonanz in der Öffentlichkeit. Freud sprach davon, dass er den Kränkungen der Menschheit eine weitere und sehr tiefe hinzugefügt hätte: „Mit dieser Hervorhebung des Unbewussten im Seelenleben haben wir aber die bösesten Geister der Kritik gegen die Psychoanalyse aufgerufen (…) Zwei große Kränkungen ihrer naiven Eigenliebe hat die Menschheit im Laufe der Zeiten von der Wissenschaft erdulden müssen. Die erste, als sie erfuhr, dass unsere Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, sondern ein winziges Teilchen eines in seiner Größe kaum vorstellbaren Weltsystems. Sie knüpft sich für uns an den Namen Kopernikus, obwohl schon die alexandrinische Wissenschaft ähnliches verkündet hat. Die zweite dann, als die biologische Forschung das angebliche Schöpfungsvorrecht des Menschen zunichte machte, ihn auf die Abstammung aus dem Tierreich und die Unvertilgbarkeit seiner animalischen Natur verwies. Diese Umwertung hat sich in unseren Tagen unter dem Einfluss von Ch. Darwin, Wallace und ihren Vorgängern nicht ohne das heftigste Sträuben der Zeitgenossen vollzogen. Die dritte und empfindlichste Kränkung aber soll die menschliche Größensucht durch die heutige psychologische Forschung erfahren, welche dem Ich nachweisen will, dass es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewusst in seinem Seelenleben vorgeht. Auch diese Mahnung zur Einkehr haben wir Psychoanalytiker nicht zuerst und nicht als die einzigen vorgetragen, aber es erscheint uns beschieden, sie am eindringlichsten zu vertreten und durch Erfahrungsmaterial, das jedem einzelnen nahegeht, zu erhärten. Daher die allgemeine Auflehnung gegen unsere Wissenschaft, die Versäumnis aller Rücksichten akademischer Urbanität und die Entfesselung der Opposition von allen Zügeln unparteiischer Logik“ ( Freud, Sigmund (1917): Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW, Bd. XI, S. 294f).
  5. Wenn Freud soeben eine „Mahnung zur Einkehr“ ansprach, ist damit ein Kernpunkt aller Psychotherapien thematisiert, die mit Dialog und Einsicht zu arbeiten versuchen. Psychotherapie ist in diesem Sinne eine Hilfe zur Einkehr, zur selbstverantwortlichen Veränderung, und ihr geht als unerlässliche Vorbedingung die eigene Einkehr des Therapeuten, dessen eigene Analyse, voraus. Und das ist nicht nur ein methodisches Grunderfordernis für die praktische Tätigkeit, sondern stellt zugleich etwas bahnbrechend Neues bis tief in den Bereich der Theoriebildung dar: Der Forscher schaut nicht nur nach außen, auf die Welt, die anderen, sondern auch oder sogar vorrangig in sich selber. Dies war und ist ein unerhörter Anspruch, denn was fällt uns Menschen schon schwerer als die Selbstreflexion?
  6. Wie stellen sich, speziell in Deutschland, Psychotherapeuten zu den Abgründen dieses 20. Jahrhunderts? Die Frage ist in ihrer Allgemeinheit schwer zu beantworten. Wie auch anderswo gibt es eine Reihe äußerst verdienstvoller Pioniere (Alexander und Margarete Mitscherlich, Horst-Eberhard Richter, Helm Stierlin u.a.) und eine breite Masse von Scheuklappenträgern. Einige Besonderheiten unseres Faches seien genannt, die einen klaren Blick erschweren:
    • Ausrichtung auf die Einzelnen (Ausklammern des Politischen)· und dabei besonders auf deren Leidensperspektive (die Gefahr, nur noch „Opfer“ zu sehen, Täterbezüge also zu ignorieren)
    • als Folge Mitmachen in der allgemeinen Verleugnung von konkreten NS-Bezügen
    • Psychologisierung des Schuldthemas
    • Blindheit gegenüber individuellem und kollektivem Bösen
    • Allgemeines Überschätzen der psychologischen Perspektive
    • Entwicklung von Omnipotenzhaltungen beim andauernden Therapieren Hilfsbedürftiger
    • Delegation von „Problemhaftigkeit“ an die Klientinnen und Klienten, fehlendes Reflektieren eigener Abgründe, wenn erst einmal der therapeutische Alltag läuft.
  7. Und dennoch: Psychotherapie ist ein Feld, in dem gesellschaftlich beiseite geschobene Themen zur Sprache kommen können und sich dann vielleicht auch in die Öffentlichkeit transportieren lassen.