Kreuze in Klassenzimmern?

Bayerns gesetzlicher Beitrag zur Kontinuität des Antisemitismus 

Konrad Riggenmann

1.    Du sollst nicht merken

„Als die Nazis die Kreuze aus den Schulen entfernen wollten, stießen sie auf erbitterten Widerstand der bayerischen Bevölkerung. Die Kreuze blieben. Entfernt wurden die jüdischen Schüler.“

Mit diesem kurzen Leserbrief in der Augsburger Allgemeinen setzte ich mich im Herbst 1995 für die Respektierung des Bundesverfassungsgerichts ein, welches im Mai desselben Jahres erklärt hatte, dass Kreuze und Kruzifixe in Unterrichtsräumen staatlicher Schulen dem Grundgesetz (Art.4) widersprechen, entsprechende Vorschriften daher nichtig sind. Gelesen hatte ich die Schlagzeilen, mit denen die Karlsruher Entscheidung den deutschen Zeitungslesern verkündet wurde, zum ersten Mal ? am Zielpunkt einer sommerlichen Fernwanderung ? ausgerechnet im ehemaligen jüdischen Ghetto von Prag.
Es gibt keine Zufälle, behaupten manche Leute.
Mich jedenfalls brachte diese merkwürdige Koinzidenz dazu, mich intensiv mit dem Zusammenhang von Kreuz und Antisemitismus zu befassen, und ich merkte bald, wie sehr Alice Millers Satz ?Du sollst nicht merken!? gerade für die Schuld des Christentums am Holocaust gilt. 
Weder im Geschichtsunterricht des Gymnasiums noch in den Medien, schon gar nicht in meinem Theologiestudium (sechs Semester, die ersten zwei im Priesterseminar) erfuhr man damals irgendetwas, erfährt man bis heute mehr als verschämte Andeutungen über die Leichen im Keller der Kirchen. Erst Pinchas Lapide in seinem Vortrag ?Kann man seine Feinde lieben? ? Eine jüdische Erdung der Bergpredigt? beim Nürnberger interreligiösen Forum 1988 öffnete mir eine Tür, als er darlegte, wer Jesus realiter ans Kreuz gebracht hatte: ein staatsterroristischer Akt der römischen Besatzer, für den aber nicht die Italiener als deren Nachfahren, sondern anderthalb Millionen jüdische Kinder die Todesstrafe erhielten (allein im letzten Jahrhundert), weil ihre Vorfahren am Kreuzweg gesagt haben sollen, ?Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.? (Mt 27,25)

2.    Mit großen Kinderaugen

Die Shoah aus der Sicht der Kinder zu betrachten, entsprach meiner Tätigkeit als Pädagoge an Grund- und Hauptschulen. Das Ergebnis meines pädagogischen Ansatzes zur Klärung der Motive und Wege Richtung Auschwitz konnte ich dank der aufgeschlossenen Verlegerin Maruta Schmidt 2002 im Berliner espresso-Verlag veröffentlichen: ?Kruzifix und Holocaust ? über die erfolgreichste Gewaltdarstellung der Weltgeschichte.?
Wie nimmt ein Kind das Kruzifix auf? Eine erfahrene Kollegin erzählte mir, sie habe das Kreuz (das nun wieder vorschriftsmäßig hing) früher lange Zeit entfernt gehabt, weil ihre Erstklässler nach den ersten Schultagen regelmäßig fragten, was ist das an der Wand da mit dem Mann, und weil die Kleinen, als sie versuchte, die Kreuzigung so schonend wie möglich zu erklären, regelmäßig in Tränen ausbrachen. Eine katholische Religionslehrerin kam zu einem Referat von mir bei den Grünen mit der Frage, wann sie denn nun selbst endlich das Kreuz abhängen dürfe, das Kinder bei den Passionserzählungen immer zum Weinen bringe. Selbst der Pfaffenhofener Ortspfarrer als offensiver Kreuzverfechter gab bei einer Diskussion im Pfarrgemeindehaus zu, dass Kinder da oft weinen, ?aber nur, weil sie mit Jesus mitfühlen?.  Pfarrer Dallmeier aus Marklkofen, der in seinem Kindergarten das Kruzifix entfernt hatte, weil die Erzieherinnen ihm berichtet hatten, dass es die Kinder ängstige, sandte mir unterstützende Briefe, die er erhalten hatte: Da nennt ein Schulrat den Mut des Pfarrers ?ein Hoffnungszeichen?, ein Schulleiter versichert ihn der Unterstützung des Kollegiums, ein Religionslehrer ist ganz seiner Meinung: ?Da muss mehr Leben rein!? Und eine gläubige Katholikin berichtet: ?Als betreuende Mutter war ich dabei, als ein griechisches Kindergartenkind beim Proben des Erntedankfestes einen Schock erlitten hat, als es zum ersten Mal den Gekreuzigten sah! Das Mädchen hat nur noch geschrien und war nicht zu beruhigen, sie war richtig in Panik! … Warum wird in den Kirchen ein Toter angebetet? … Ihre Worte aus dem Bericht ?Es ist die brutale Darstellung eines geschundenen Mannes? unterstreiche ich voll und ganz!!!?

Was diese Frau und dieser katholische Priester wahrnahmen, hat der protestantische Theologe und Philosoph Sören Kierkegaard schon vor 150 Jahren so in Worte gefasst:  
?So denk dir denn ein Kind, dem du eine Freude machen möchtest … Und so zeigst du nun dem Kinde allerlei Bilder zu des Kindes unsäglicher Freude, da kommst du an eines, das mit Fleiß dazwischengelegt ist, es stellt vor einen Gekreuzigten. Das Kind wird dies Bild nicht allsogleich, auch nicht so ganz unmittelbar verstehen, es wird fragen, was das zu bedeuten hat, warum der Mann an solch einem Balken hängt. Da erklärst du dem Kinde, es sei ein Kreuz, und daran hängen heiße gekreuzigt sein, Kreuzigung sei in jenem Lande die schmerzhafteste Todesstrafe gewesen … Wie wird das nun auf das Kind wirken? Dem Kind wird wunderlich zumute werden, es wird wohl eigentlich sich wundern, wie du dazu kommst, ein solch hässliches Bild zwischen all die hübschen zu legen … Denn wie den Juden zum Trotz über seinem Kreuze zu stehen kam ?der Juden König?, so ist dieses Bild, das Jahr um Jahr von neuem herauskommt, dem Geschlecht zum Trotz eine Erinnerung, die es niemals loswerden kann oder wird, … und es wird sein, als ob das gegenwärtige Geschlecht ihn gekreuzigt hätte jedes Mal, um einem Kind des kommenden Geschlechts zu erklären, wie es in der Welt hergehe; und dem Kinde wird … Angst und bange werden vor den Älteren und der Welt und sich selber … Mittlerweile wird das Kind, wissbegierig wie Kinder es immer sind, doch schon fragen, wer ist das, was hat er getan, ja? … Erzähle dem Kinde, dass er Liebe ist, dass er aus Liebe auf die Welt gekommen, die Menschen zu lieben und ihnen zu helfen, sonderlich allen, welche krank und traurig und leidend und unglücklich waren. Erzähle dann dem Kinde, wie es ihm im Leben ergangen, wie einer der Wenigen, die ihm näherstanden, ihn verraten, die wenigen andern ihn verleugnet, und alle andern seiner gehöhnt und gespottet, bis sie zuletzt ihn ans Kreuz hefteten ? so wie man es auf dem Bilde sieht ? und wünschten, sein Blut möge kommen über sie und ihre Kinder.
Welche Wirkung also meinst du, wird diese Geschichte beim Kind hervorrufen? Zuallererst wohl die, dass es die andern Bilder vergäße …? Nach und nach aber, wenn das Kind hinginge und über diese Geschichte nachdächte, würde es wohl immer leidenschaftlicher werden; es würde nur noch denken und sprechen von Waffen und Krieg ? denn das hätte das Kind fest bei sich beschlossen, wenn es erst groß sei, alle diese gottlosen Menschen entzweizuhauen, welche an dem Liebreichen so schlimm gehandelt hatten, wider den sie riefen ?kreuzige ihn, kreuzige ihn!?; dies hätte das Kind beschlossen, nach Kindesart vergessend, dass es über achtzehnhundert Jahre her sei, seitdem sie lebten.?

Es war dann neunzehnhundert Jahre her, als christlich erzogene deutsche Kinder, hießen sie nun Heini, Rudi, Jupp oder Adolf, begannen, die gerechte Bestrafung des Kreuzigervolkes endlich gründlich anzupacken.

Den leidenschaftlichen Ruf des Kindes nach gerechter Bestrafung der Täter fasste der britische Sozialphilosoph John Stuart Mill (1806-1873) im Begriff des ?empathischen Zorns?, den er beschreibt als ?das natürliche Verlangen nach Vergeltung … das von Verstand und Mitgefühl geäußert wird und sich auf jene Kränkungen bezieht, die uns verletzen, indem sie andere verletzen?; dieses Empfinden sei, so Mill, der ?Hüter der Gerechtigkeit?.?  Es ist nur natürlich, stellt der sehr nüchtern denkende Mill fest, jedes Unrecht bestrafen zu wollen. ?das uns oder denen zugefügt wird, mit denen wir mitfühlen.?

Jean Piaget (1896-1980), der wohl bedeutendste Kinderpsychologe seines Jahrhunderts stellt, sowohl als junger Vater in den Dreißigern wie auch als 77-jähriger Opa, der ein halbes Jahrhundert lang Kinder (mit Vorliebe auch seine drei eigenen) beobachtet hatte, mit Bezug auf Beobachtungen seiner Mitarbeiterin Helena Antipoff  folgendes fest:
?Unter den instinktiven Neigungen sind vor allem diejenigen zur Rache und zum Mitleid zu erwähnen. Beide entwickeln sich tatsächlich unabhängig von dem Druck des Erwachsenen … Nun lassen sich aber, wie Frau Antipoff in einer kurzen Bemerkung über das Mitleid sehr gut gezeigt hat, die Neigungen zur Rache sehr früh unter dem Einfluss der Sympathie ?polarisieren?: Indem das Kind kraft seiner erstaunlichen Fähigkeit zur Einfühlung und zur gefühlsmäßigen Identifikation mit dem Leidenden selbst leidet, fühlt es das Bedürfnis, den Unglücklichen, wie sich selbst, zu rächen und empfindet eine gewisse Schadenfreude über das dem Urheber des Schmerzes eines anderen zugefügte Leiden.?

Natürlich werden christliche Kinder schon immer dazu erzogen, mit Jesus, dem Gottessohn, intensiv mitzufühlen. Aber lässt sich das ?größte Verbrechen der Weltgeschichte? (so der katholische Auschwitz-Kommandant Höß) mit kindlichen Verletzungen und Animositäten erklären?
Festzuhalten ist zunächst, dass die Shoah nur das (vorläufige) Finale einer siebzehnhundertjährigen blutigen Verfolgungsgeschichte ist, die mit der ersten von Christen abgefackelten Synagoge im Jahr 388 (am Euphrat) begann und in Kreuzzügen, Inquisition wie auch vielen lokalen Pogromen sieben Millionen Männer, Frauen und Kinder schon vor Hitler das Leben kostete. Hochsaison des Judenjagens war dabei die Karwoche, die ?jährliche Achse der Judenverfolgung im christlichen Abendland? , so sehr, dass im 15.Jahrhundert die französischen Juden während der Passionsspiele ihre Häuser nicht verlassen durften. Denn in dieser Zeit bekam die analphabetische Gläubigenschar zu hören, wen die christliche Bibel als Täter benennt. Ließ doch Matthäus in seinem Evangelium (geschrieben fünfzig Jahre nach Jesu Tod) ihn selber prophezeien: ?Etliche von ihnen werdet ihr töten und kreuzigen, andere werdet ihr in euren Synagogen geißeln und von Stadt zu Stadt verfolgen, damit über euch alles gerechte Blut komme, das auf die Erde ausgegossen wurde, vom Blute Abels, des Gerechten, an bis zum Blute des Zacharias, den ihr zwischen Tempel und Altar ermordet habt.? (Mt 23, 34-35. Allerdings sind nach Schätzung führender protestantischer Theologen wie Bultmann und Lüdemann nur fünf bis fünfzehn Prozent der biblischen Jesusworte authentisch; dieses z.B. nicht!). 
Vorgelesen,  gespielt und vorgesungen bekam das ergriffene Publikum der Passionsspiele, wie Jesus verraten, geschlagen, verhöhnt, gegeißelt und angenagelt, wie also das unschuldige Opfer gemobbt wird. So lebensnah wird Jesus da geschlägert, dass beim Passionsspiel in Deggendorf 1740 der brutal gegeißelte Darsteller des Jesus kurz aus der Rolle fiel, zurückschlug und damit eine allgemeine Schlägerei auslöste. Und nur wer als Kind nie Mobbing, Verrat von Versprechungen, Schläge von der Hand des Vaters erlebte, wird nicht mit jenem Jesus mitfühlen, der den himmlischen Vater so Blut schwitzend wie vergeblich um Schonung angefleht hatte. Die Zeigefinger der Evangelisten weisen immer, von Verrat über Verschwörung und Verleumdung bei Pilatus (dem unschuldigen Biedermann, der in elfjähriger Amtszeit 6000 Juden ans Kreuz brachte) auf die Kinder Judas. So eingängig war die Schuldzuweisung, dass noch die jüdische Schauspielerin Therese Giehse über ihre Schulzeit im kreuz-geschmückten Klassenzimmer des schwäbischen Hainsfarth berichtet: ?Ich war dick, rothaarig und hatte den Herrn Jesus umgebracht.? 

3.    Ein Stich ins Angesicht des Kindes

Irgendeinen erwachsenen Herrn umzubringen ? und sei dieser noch so lieb und unschuldig ? erzeugt jedoch nicht annähernd die Hass- und Rachegefühle, welche die Misshandler und Mörder eines Kindes treffen. Nun war und ist aber Jesus den Gläubigen immer auch als Kind präsent: Marias Söhnchen, das an Weihnachten noch in der Krippe liegt, wird vor Ostern schon ans Kreuz genagelt, alljährlich. Kinder merken das sehr wohl. Eine Kollegin schrieb mir, ihre Mutter habe das Kruzifix im Elternschlafzimmer abnehmen müssen, weil sie sonst als Kind in diesem Zimmer nicht einschlafen konnte. ?Trotz Abhängens hat es mich ?verfolgt?.  Es führte so weit, dass ich die Falten im Federbett wegdrückte, weil sie in ihrer rundbogenartigen Form an Maria, die Mutter des Gekreuzigten, erinnerten – wie ich sie als 4-5-Jährige eben zeichnete. So hat mich als Kind nicht mal das mütterlich-versöhnliche Bild Mariens trösten können, denn das birgt ja gleich schon das Schicksal (?) ihres Sohnes in sich. Bezeichnenderweise ist es ja auch so, dass auf vielen Madonnendarstellungen das Jesusknäblein bereits mit einem Kreuz spielt. Bei mir bedurfte es nicht mal mehr dieser aufdringlichen Symbolik.?
Zu ängstlich, das kleine Mädchen? Auch der gewiss nicht feige jüdische Widerstandskämpfer Frank Andermann erinnert sich, mal ein Kreuz in einem Schlafzimmer gesehen zu haben und fragt sich: ?wie einer schlafen konnte, den Gehenkten über sich. Hörte er seine Schmerzensschreie nicht vor dem Einschlafen und im Traum??  
Wie sehr das kindliche Trauma bei christlichen Erwachsenen nachwirkt, zeigen die vielen Legenden über kleine Kinder, die in der Hostie erschienen waren, zum Beispiel wieder im niederbayerischen Deggendorf. Erst um 1970 wurden aus der dortigen Pfarrkirche die 1725 gemalten Tafelbilder entfernt, welche an eine jüdische Hostienschändung im Jahre 1338 erinnerten. Die Bildunterschrift erklärt dem Betrachter: ?Die heiligen Hostien werden von den Juden bis auf das heilige Blut mit Dornen zerkratzt und es erscheint unter solcher Marter ein kleines Kind.? Nachdem die Einwohner der beträchtlich verschuldeten Klein-stadt ihre jüdischen Mitbürger sämtlich an einem Tag ausgeraubt und ermordet hatten (die Hostienschändung entdeckte man erst 32 Jahre später), wurde Deggendorf zum Ausgangspunkt einer Welle blutiger Pogrome in Niederbayern ? und zum Wallfahrtsort, welchem erst 1477  ernsthafte Konkurrenz entstand: In Passau, das mit dem 70 km entfernten Deggendorf und Hitlers Geburtsort Braunau (50 km) ein geographisches Dreieck bildet, hatten Juden in ihrer Syn-agoge ?in grimmiger Begierde, Jesum noch einmal zu kreuzigen? mit dem Mes-ser in eine Hostie gestochen, ?woraus Blut geflossen, und wo dann das Angesicht eines Kindes erschienen ist.?

Nein, nicht dieses Gesicht:
Zwar ist dieses Baby in Braunau geboren und dort sowie in Passau aufgewachsen, aber erst gut vier Jahrhunderte später.
Wer hier so herzig in die Kamera schaut, noch ganz unschuldig, ist Adolf Hitler selber, der große irre Führer, dem man so bequem den ganzen Holocaust mit in den Selbstmord geben kann, um nicht zu merken, dass er, wie alle Nazigrößen, sehr christlich erzogen worden war.

4.    Auch die Verfolger waren Kinder

Adolf Eichmanns Vater war äußerst strenggläubiger Protestant, und schon als Kind hatten die Eltern ihn beim ?Christlichen Verein junger Männer? eintragen lassen. 1950 nach Argentinien entkommen, ließ er allerdings in seinen Pass „catolico? eintragen, mit folgender Begründung: ?Ich erinnerte mich in tiefer Dankbarkeit an die Hilfe katholischer Priester bei meiner Flucht aus Europa und entschied, den katholischen Glauben zu honorieren, indem ich Ehrenmitglied wurde.? 

Heinrich Himmler, der spätere ?größte Massenmörder der Geschichte?  kam 1900 in München zur Welt und wuchs als zweiter von drei Brüdern wohlbehütet in einem erzkatholischen, bürgerlichen Elternhaus auf. Da sein Vater Gymnasiallehrer bei Hofe war, übernahm dessen ehemaliger Schüler Prinz Heinrich von Bayern die Patenschaft für den Himmler-Spross gleichen Vornamens. Der stolze Vater ermöglichte seinen drei Söhnen eine gymnasiale, konservative, ?auf religiösen Überlieferungen aufbauende Erziehung, die weder die Autorität des Elternhauses noch die bestehende Gesellschaftsordnung in Frage stellte?. 
Der ?unbestechliche SS-Heilige?, ständig an Magenkrämpfen leidend, nahm beim Aufbau seiner in ?bauernschwarze? Uniformen gekleideten ?Schutz-Staffel? die militärisch-hierarchische, auf absolutem Gehorsam basierende Struktur des Jesuiten-Ordens zum Vorbild.  ?Wir wissen wohl,? lobte er seine Totenkopfsoldaten, ?wir muten euch ?Übermenschliches? zu, wir verlangen, dass ihr ?übermenschlich unmenschlich? seid.?. Kraft für ihren  schweren, historisch notwendigen Auftrag sollten sie aus dem Bewusstsein schöpfen, dass sie einer ?in zweitausend Jahren nur einmal vorkommenden Aufgabe dienten?.  Warum gerade zweitausend? Welches Ereignis stand am Beginn dieser ganz unheidnischen Zeitrechnung?

Auch Joseph Goebbels? Vater war ein ernster und tiefreligiöser Mann, dessen strenge Art aber durch seinen stark ausgeprägten rheinischen Humor gemildert wurde. Er und seine holländische Frau wünschten, ihren begabten und fleißigen Sohn dereinst im Priesterornat zu sehen, und obwohl er dann nach dem Abitur nur Literaturwissenschaft studierte, bezog er sechs Semester lang ein Stipendium des Albertus-Magnus-Vereins, für das ihm Kaplan Dr. Mollen ?wegen seines religiösen und sittlichen Verhaltens die beste Empfehlung? gegeben hatte. Immerhin schrieb der frischgebackene Dr.phil. ein Christusdrama mit dem Titel ?Der Wanderer?, welches aber nie veröffentlicht wurde. Goebbels entfaltete seine dramaturgische Begabung anderweitig, und im Januar 1933, kurz vor der Machtergreifung, die es ohne die geschickte PR des Dr. Joseph Goebbels wohl nie gegeben hätte, notiert der spätere Propagandaminister in sein Tagebuch: ?Abends sahen wir den Film ?Rebell? von Luis Trenker. Eine Spitzenleistung der Filmkunst. So kann man sich den Film der Zukunft denken, revolutionär mit ganz großen Massenszenen, die mit einer ungeheuer vitalen Kraft hingeworfen sind. In einer Szene, in der ein Riesenkruzifix vor den Aufständischen aus einer Kapelle getragen wird, wird der Zuschauer auf das tiefeste erschüttert.?

Den religiösesten, in den Augen des Sohnes ?fanatisch katholischen? Vater hatte aber der 1900 in Baden-Baden geborene, spätere KZ-Kommandant Rudolf Höß.  Noch als Ehemann, in der Mitte seines Lebens, spielte dieser Vater nach Aussage seines Sohnes mit dem Gedanken, dem Leben zu entsagen und ins Kloster zu gehen. Als dann seine jüngste Tochter geboren war, legte der tiefernste Katholik ein religiöses Gelübde ab, weihte seinen Sohn Gott und dem Priestertum, führte seitdem eine keusche ?Josefs-Ehe?und wurde ?immer religiöser. So oft es seine Zeit erlaubte, fuhr er mit mir zu all den Wallfahrtsstätten und Gnadenorten meiner Heimat, sowohl nach Einsiedeln wie nach Lourdes in Frankreich. Inbrünstig erflehte er den Segen des Himmels für mich, dass ich dereinst ein gottbegnadeter Priester würde? ? so wie die bärtigen Afrika-Missionare, die so häufig den Vater besuchen kamen, vom Sohn bewundert.  Statt ?Missionar bei den Schwarzen? wurde dieser dann ? in wütender Rebellion gegen den Vater ? Soldat und schließlich, in schwarzer Uniform, der Kommandant von Auschwitz, der jüdische Kinder lebend ins Feuer werfen ließ.

5.    Das Opfer des Kindes

Kinder ?durchs Feuer gehen? zu lassen, ?nach der gräulichen Sitte der Völker, die der Herr vor Israel vertrieben hatte? (2 Kön 16,3): die Opferung der erstgeborenen Söhne war Brauch in Kanaan zu Zeiten Abrahams, und sie spiegelt sich zuletzt noch in der Opferung des Isaak (Gen 22). Gehorsam folgte Abraham der Stimme Gottes und legte seinen und Sarahs lang ersehnten, einzigen Sohn auf den Altar. Doch als er das Messer zückte, griff Gott ein, rettete den Menschensohn und ließ einen Widder an Ort und Stelle sein, als Ersatz zu opfern. Religionsgeschichtlich markiert diese Erzählung die allerhöchste Legitimation und Anweisung, vom Menschen-  auf das Tieropfer überzugehen. Gott wollte keine Menschen- , keine Kinderopfer mehr.
1800 Jahre später machen Paulus und die Evangelisten Gott erneut zum Menschenopferer. Nun aber wird der Menschensohn nicht ?schonend? wie ein Lamm auf der Schlachtbank, sondern mit der grausamsten Art von Hinrichtung zu Tode gefoltert, die Menschen sich je ausgedacht haben.  Der Kelch geht nicht vorüber, Jesus wird, damit die Nägel unter seiner Last nicht aus dem Fleisch reißen, durch Handwurzelknochen und Sprunggelenk genagelt, wie es bei den Römern Stand der Technik war.

Wie sollen Söhne christlicher Väter mit dem Mythos vom Sohn opfernden Gottvater leben, den diese Väter ihnen vermitteln? Betrachten wir die Lebensläufe der oben genannten vier christlich erzogenen Nazis.

·    Bei allen vieren ist der Vater der religiös aktivere Part, dominant sowohl gegenüber der Mutter und der Familie als auch in der Erziehung.
·    Bei allen vieren fordert der Vater vom Sohn die gehorsame Erfüllung eines väterlich vorgezeichneten, religiös-idealistisch und hoch moralisch orientierten Lebensweges, der mehr oder weniger ein Selbstopfer forderte.
·    Alle vier rebellieren als junge Männer gegen die von ihren Vätern angebotenen Kelche des christlichen Selbstopfers und bleiben der väterlichen Gottvater-Religion doch lebenslang gehorsam.

     Das Ganze spielt sich ab in einem Kulturraum, dessen zentrale religiöse Mythe im Selbstopfer des verratenen Sohnes zur Versöhnung des liebenden Vaters besteht. Dass Söhne dagegen rebellieren, von ihren Vätern so auf den Altar gelegt zu werden, entspricht ihrem gesunden Selbsterhaltungstrieb. Aber der ?Alte Herr?, gegen den Dolfi, Heini, Jupp und Rudi revoltierten, gegen den sie insgeheimen Hass schon lange in sich trugen, war auch der Alte Herr des Alten Testaments mit seinem Alten Volk des Alten Bundes, dessen Kontrahent der junge Sohnesgott Jesus war. Mit diesem konnten sie sich aber nicht identifizieren; viel zu aufdringlich war ihnen diese Opfer-Helden-Rolle von ihren Vätern angetragen worden. Also wählten sie einen Ersatz für den Heiland Jesus: den Erlöser Hitler, der gegen das auserwählte Volk des Alten kämpfte. Mit dem Führer kämpften sie gegen ihren Vater, von dem sie sich gelöst zu haben meinten. Und gleichzeitig war ihre Treue, ihr Gehorsam zum Führer auch ein verschobenerer, versöhnender Gehorsam gegen den Vater, den sie verraten, gegen dessen liebende Lebenspläne sie verstoßen hatten.
     Die Vater-Sohn-Struktur der christlichen Kreuzigung, untrennbar vom Sohnesmord-Vorwurf an die Juden, erscheint bei ihnen als wesentliche erziehungspsychologische Ursache ihres fanatischen Antisemitismus. Ob und inwieweit diese Vermutung zutrifft, lässt sich vielleicht an ihrem Meister nachprüfen. Über den sagte Psychologe Goebbels übrigens die ahnungsvollen Sätze: ?Hitler hat fast genau dieselbe Jugend durchgemacht wie ich. Der Vater Haustyrann, die Mutter eine Quelle der Güte und Liebe.?  

     Als das ?k.k. Zollamts-Offizialkind? Adolf Hitler 1889 im österreichisch-bayerischen Grenzstädtchen Braunau zur Welt kam, war sein Vater 52, die Mutter 29 Jahre alt.  Der Vater, ?stattlich, selbstbewusst, mit blinkenden Uniformknöpfen, war ein Herrschertyp schon vom Gesicht her. Widerspruch im Kreise seiner Abhängigen duldete er nicht, seinen Willen setzte er mit drakonischer Strenge durch?. 
Und er war für absoluten Gehorsam. Adolfs älterer Stiefbruder Alois junior beklagte sich später bitter, dass sein Vater ihn häufig ?unbarmherzig mit der Nilpferdpeitsche geschlagen? habe. Den Hund der Hitlers schlug der Herr des Hauses so lange, bis er sich krümmte und den Fußboden nässte. Gewalttätigkeiten dieser Art musste, Alois Hitler jr. zufolge, sogar die duldsame Ehefrau Klara Hitler ertragen. Wenn diese Angaben stimmen, ?so müssen solche Auftritte bei Adolf Hitler einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen haben.? 
Und es war, erinnert sich seine Schwester Paula ?vor allem Bruder Adolf, der meinen Vater zu extremer Härte provozierte. Er war ein etwas unflätiger kleiner Lausbub, und alle Versuche seines Vaters, ihm die Frechheit auszuprügeln … waren vergeblich.? Angela, Hitlers andere Schwester, fragte ihren kleinen Bruder einmal, warum er denn nach der Schule nicht sofort heimkäme. Und Adolf antwortete mit kühler Logik: ?Wenn ich heimgeh?, werd? ich vom Vater g?schlagen, aber ich kann nicht spielen. Wenn ich wegbleib?, kann ich eine Stunde spielen und die Prügel dauern nicht länger als 5 Minuten.?
So abgebrüht? Sein letzter durchstandener Prügelexzess kann als Schlüsselszene für das lebenslange Laborieren Adolfs genommen werden: ?Viele Jahre später erzählte Hitler einer seiner Sekretärinnen, er habe einmal in einem Abenteuerroman gelesen, es sei ein Zeichen von Mut, seinen Schmerz nicht zu zeigen. Und so ?nahm ich mir vor, bei der nächsten Tracht Prügel keinen Laut von mir zu geben. Und als dies soweit war ? ich weiß noch, meine Mutter stand draußen ängstlich an der Tür ? habe ich jeden Schlag mitgezählt, der auf meinen Hintern niederging. Die Mutter dachte, ich sei verrückt geworden, als ich ihr stolz strahlend berichtete: Zweiunddreißig Schläge hat mir der Vater gegeben!?? 
Der Vater habe ihn, erzählte er der Sekretärin Christa Schroeder, von da an nicht mehr angerührt.
Fast vier Jahrzehnte später beobachtet sein Vertrauter Rauschning: ?Aber er hat Zustände, die an Verfolgungswahn und Persönlichkeitsspaltung nahe heanreichen … Mir hat jemand aus seiner engsten täglichen Umgebung berichtet: er wache des Nachts mit Schreikrämpfen auf. Er schreie um Hilfe. Auf seiner Bettkante sitzend könne er sich nicht rühren. Die Furcht schüttle ihn, so dass das ganze Bett vibriere. Er keuche, als glaube er, ersticken zu müssen. Der Mann erzählte mir eine Szene, die ich nicht glauben würde, wenn sie nicht aus solcher Quelle käme. Taumelnd habe er im Zimmer gestanden, irr um sich blickend. ?Er! Er! Er ist dagewesen? habe er gekeucht. Die Lippen seien blau gewesen. Der Schweiß habe nur so an ihm heruntergetropft. Plötzlich habe er Zahlen vor sich hergesagt. Ganz sinnlos. … Dann habe er wieder ganz still gestanden und die Lippen bewegt. Man habe ihn abgerieben, habe ihm etwas zu Trinken eingeflößt. Dann habe er plötzlich losgebrüllt: ?Da, da! in der Ecke! Wer steht da?? Er habe aufgestampft, habe geschrien wie man das von ihm gewohnt sei. Man habe ihm gezeigt, dass da nichts Ungewöhnliches sei, und dann habe er sich allmählich beruhigt …?
Luther hätte wohl das Tintenfass geworfen, auf den, den Hitler da in der Ecke sah. Aber er hätte nicht Zahlen vor sich hergesagt: Die Zahlen nämlich, die der kleine Adolf damals nur stumm mitgezählt hatte: … 29 ? 30 ? 31 ? 32. Überstanden! Eine ganze Tracht Prügel, und ohne den kleinsten Laut! Stolz war der kleine Indianer zur Mutter gelaufen, er hatte es dem Vater gezeigt (der muss ja auch überrascht gewesen sein, als sein Trommelschlägel keine Musik hervorbrachte), und er hatte nun eine Methode gefunden, seinen Vater zu besiegen, indem er seine eigenen Gefühle mannhaft unterdrückte. Hier, bei diesen stumm ertragenen 32 Schlägen, bei diesem inneren Zurückhalten legte der Hitlersohn den Grundstein für eine lebenslange Selbstunterdrückung, die sich in seinem Lieblingswort ?eiskalt? spiegelte.
Jedoch kein kalter Hass, sondern Hassliebe bestimmte ? ?double bound? ? die Beziehung zwischen Alois und Adolf Hitler.  ?Der alte Herr ward verbittert und …, ich auch? schreibt Adolf in ?Mein Kampf?, aber nicht ohne den gottesfürchtigen Halbsatz einzuschieben: ?…  so sehr ich ihn auch liebte .?
Nicht nur in der breitbeinigen Pose des Familientyrannen, im Gestus des ?Koan Muckser, gell!? ahmte Adolf seinen Vater nach. Schon der Vierjährige soll, allein auf einem kleinen Hügel stehend, politische Reden gehalten haben, wie sie wohl auch der ?freisinnige? Vater daheim zum Besten gab, vor allem, wenn er seine üblichen ?drei bis vier Schoppen? intus hatte. So wie der Vater dann gegen die ?schwarzen Klerikalen? herzog, pflegte auch der Sohn sich im vertrauten Kreise über die ?Pfaffen? zu mokieren. Die Hundepeitsche trug auch der Filius, und gerne auch zum feinen Anzug. Und sogar der bei den letzten Buchstaben abfallende Namenszug, aus dem man graphologisch schon so viel psychische Dekadenz herausgelesen hat, wurde genau so schon vom Zollamtsoberoffizial A.Hitler gepflegt. 
Abseits dieser ehrfürchtigen Identifikation jedoch müssen Adolfs Hass und Angst  enorm gewesen sein, wenn man bedenkt, dass er mehrfach versuchte, wie sein älterer Stiefbruder aus dem Vaterhaus zu fliehen. Der 11-Jährige Adolf wäre beinahe zu Tode geprügelt worden, als er mit drei Kameraden weggelaufen war, um sich auf einem selbstgebauten Floß den Fluss hinuntertreiben zu lassen und sich so vor der Gewalt des Vaters zu retten.  Eine weitere Schlüs-selszene ereignete sich wieder bei einem solchen Fluchtversuch:
?In einer besonders rebellischen Phase beschloss Adolf eines Tages, davonzulaufen. Sein Vater erfuhr jedoch davon und schloss ihn in einem der oberen Räume ein. In der Nacht versuchte der Junge, durch eine Fensteröffnung zu entkommen; und nachdem sie sich als zu eng erwiesen hatte, entledigte er sich seiner Kleider. In diesem Augenblick hörte er seinen Vater die Treppe herauf-kommen; er gab seinen Versuch auf und bedeckte seine Blößen hastig mit einem Tischtuch. Der alte Herr griff diesmal nicht zur Peitsche; stattdessen brach er in Gelächter aus und rief seine Frau; sie möge doch heraufkommen und sich den ?Togajüngling? ansehen. Dieser Spott traf den Sohn härter als jede körperliche Züchtigung. Helene Hanfstaengl bekannte er später, er habe ?lange gebraucht, um über diese Episode hinwegzukommen.? 
?… und warfen ihm einen Purpurmantel um, traten auf ihn zu und sagten: ?Sei gegrüßt, König der Juden?, und sie gaben ihm Ohrfeigen.? (Joh 19,3). Am 20. Juli 1932 spricht der Sohn auf die erste ?Adolf-Hitler-Schallplatte?: ?Vor 13 Jah-ren wurden wir Nationalsozialisten verspottet und verhöhnt ? heute ist unseren Gegnern das Lachen vergangen.? Am 30. September 1942 triumphiert Hitler wieder, und es sind die Juden, die früher gelacht haben: ?Ich weiß nicht, ob sie auch heute noch lachen, oder ob ihnen das Lachen bereits vergangen ist: Ich kann aber auch jetzt nur versichern: Es wird ihnen das Lachen überall vergehen.? 
Die Mutter war damals in den Dachstuben-Kerker heraufgerufen worden, um den Togajüngling mit auszulachen. Welche Rolle spielte die sanfte Mutter in dieser Szene und im ganzen Kindheitsdrama? Alice Miller fragt: ?Was geschieht in einem Kind, wenn es immer wieder erfahren muss, dass die gleiche Mutter, die ihm von Liebe spricht, ihm das Essen sorgfältig zubereitet, ihm schöne Lieder singt, … bewegungslos zusieht, wenn dieses Kind vom Vater blutig geschlagen wird? Wie muss es sich fühlen, wenn es immer wieder vergeblich ihre Hilfe, ihre Rettung erhofft; wie muss es sich fühlen, wenn es vergeblich in seiner Folter erwartet, sie möge doch endlich ihre Macht einsetzen, die doch in seinen Augen so groß ist? Die Mutter sieht zu, wie ihr Kind gedemütigt, verspottet, gefoltert wird, ohne ihr Kind zu verteidigen, ohne etwas Erlösendes zu tun, sie ist durch ihr Schweigen mit dem Verfolger solidarisch, sie liefert ihr Kind aus.?   Mater dolorosa: die schmerzhafte Mutter, die bei Johannes (19, 25-27) unter dem Kreuz steht, aber einen sehr gefassten Eindruck macht angesichts ihres oben nach Gottvaters Willen festgemachten Sohnes.
Wer Jesu Vater war, ist unklar. Der höchste Gott dort oben ? oder der Zimmermann Josef unten in Nazareth, als neunundddreißigster der vierzig Namen, mit denen Matthäus (Mt 1, 1-17) beweist, dass Jesus in direkter (natürlich männlicher!) Genetik von David und Abraham, und nach Lukas (Lk 3,23-36) gar von Adam abstammt?
Wer Adolfs Großvater war, ist auch unklar. Der Vater, 1837 geboren, war selbst wohl ein ungewolltes, jedenfalls illegales Kind, ein ?Bankert?, den seine Mutter als Fünfjährigen an einen Verwandten zur Erziehung abgab, kurz nachdem sie selbst geheiratet hatte. 14 Jahre lang bekam die ?Maria Anna geb.Schicklgruber, verh. Hiedler? Alimente von einem Mann namens Frankenberger. Die These vom jüdischen Großvater Frankenberger, der seiner ehemaligen Hausangestellten Anna Schicklgruber Alimente zahlte, sei heute ?entkräftet?, schreibt Steffahn, und führt als Fußnote das Kuriosum an, dass Maser, nachdem er diese These kräftig entkräftet hat, im Register den Frankenberger angibt als ?wahrscheinlicher Vater Hitlers?. Wenn die These verneint wird, bleibt ungeklärt, warum der Grazer Hausherr (für eine Besenkammer-Affäre seines 19-jährigen Sohnes?) vierzehn Jahre lang ?der Schicklgruber Alimente zahlte?, warum es ?einen jahrelangen Briefwechsel zwischen diesen Frankenbergers und der Großmutter Hitlers? gab, warum ausgerechnet Hitlers Rechtsberater Hans Frank (der später in Polen als Judenmörder wütete) diese Fakten um 1930 für den verunsicherten Hitler recherchierte, und warum Alois Hitler, ebenso wie Adolf, mit ihren Begabungen derart aus ihrer Waldviertler Familie herausstachen: ?Er ist doch aus der Art gefallen?, seufzte die Mutter Klara, nicht ohne Stolz.  Entscheidend ist aber letztlich, dass beiden dieser Dorftratsch bekannt war, beide unter dieser Dunkelheit ihrer eigenen Herkunft litten.
Nachdem er sich in seiner Volksschulzeit als Chorknabe und Messdiener im Benediktinerstift Lambach an kirchlichen Festliturgien hatte ?berauschen? können, kam er nach Linz in die Realschule, von der er als Versager abging. Abge-lehnt von der Kunstakademie, fand der verkannte Künstler geistige Nahrung und Halt in der rassistischen, frauenverachtenden und sexualneurotischen Neutempler-Religion des ehemaligen Benediktinermönchs Jörg Lanz von Liebenfels. 1914 meldete er sich begeistert als Freiwilliger zum bayerischen Heer, erwarb sich durch todesverachtenden Einsatz das Eiserne Kreuz und war nach der Niederlage ? für die auch nach kirchlicher Meinung  die Juden ?ein großer Teil der Schuld? traf ? doch der verlorene Sohn. Bald aber begann sein leuchtender Aufstieg in München. 1921 hält der gerade als Redner entdeckte Hitler eine aufmunternde Ansprache vor der kleinen Rosenheimer NsDAP-Gruppe: ?Einst stand auch ein Mann auf in Galiläa, und seine Bewegung war klein, aber heute beherrscht sie die ganze Welt.?
Zwei Jahre später zieht er mit seinen Jüngern vor die Tempelsäulen der Feldherrnhalle, wirft sich aber im Kugelhagel zu Boden, überlebt, wird gefangen genommen. Der bayerische Gefängnispädagoge Alois Maria Ott versucht am 19. November 1923, acht Tage nach seiner Inhaftierung, Hitler davon zu überzeugen, dass es ratsam sei, seinen am 11. November begonnenen Hungerstreik abzubrechen. Er gibt ihm einen Zeitungsartikel zu lesen. Hitler liest mit Interesse, seine grimmigen Falten glätten sich, doch plötzlich springt er auf, wirft die zerknüllte Zeitung wütend auf den Tisch und schreit mit überschlagender Stimme: ?Dieses Pack von Volk und Besserwissern! Dafür setzt man in heiligster Absicht sein Leben ein und dann wird man von ihm verraten. Immer schreit es hernach sein cruzifige, cruzifige! Es ist nicht wert, dass man sich opfert. Ich habe es satt, so weiterzumachen. Lieber Schluss damit! Sie sollen sehen, wie sie ohne mich fertigwerden. Ich mache Schluss!?
Statt seinen Schluss zu machen, schrieb der Landsberger Vorzugshäftling dann seine Auto-Passionsgeschichte namens ?Mein Kampf?. Sein Gegner ist, wie er beschreibt,  ?… der Jude selber. Sein Leben ist nur von dieser Welt, und sein Geist ist dem wahren Christentum innerlich so fremd, wie sein Wesen es zweitausend Jahre vorher dem großen Gründer der neuen Lehre selber war. Freilich machte dieser aus seiner Gesinnung dem jüdischen Volke gegenüber kein Hehl, griff, wenn nötig, sogar zur Peitsche, um aus dem Tempel des Herrn diesen Widersacher jedes Menschentums zu treiben, der auch damals wie immer in der Religion nur ein Mittel zur geschäftlichen Existenz sah. Dafür wurde dann Christus freilich auch ans Kreuz geschlagen …?  
Es ist aber nicht nur Christus, der von den Juden gekreuzigt wird. Vor dem Novemberputsch hatte Hitler in München gepredigt, es gäbe ?… nur zwei Möglichkeiten: entweder Sieg der arischen Rasse oder ihre Vernichtung und Sieg des Juden?. ? ?Es ist unsere höchste Pflicht, alles einzusetzen, damit nicht auch Deutschland den Kreuzestod erleidet.?  
Christus am Kreuz, Deutschland am Kreuz ? wer noch?
Offenbar sah sich Hitler, zu diesem Zeitpunkt 34 Jahre alt, Polit-Prophet einer kleinen radikalen Gruppe nationalreligiöser Zeloten und, nach dem Fiasko beim Einzug im bayerischen Jerusalem, vom Volk verraten, nun auf dem Landsberg unschuldig schmachtend, in der Rolle des leidenden Gottessohnes von Golgotha. Hat also Alice Miller unrecht, wenn sie Hitlers Rächerrolle aus ?abgewehrtem Opfersein?  herleitet? Keineswegs. Die ?Nur-Opfer-Rolle? lehnte Hitler ab. Der große Schauspieler wollte aus dieser Starrolle aller bayerischen Passionsspiele mehr machen. Das enfant humilié, das geprügelte Kind, der Schulversager und gescheiterte Künstler floh in die ?Grandiosität? (Alice Miller), die Rolle des großen Rächers und Erlösers, einen Part, der ihm vom Publikum förmlich angetragen wurde. ?Germany was not a product of Hitler?s madness?, schreibt der Psychoanalytiker Walter Langer 1943, ?but Hitler was a product of Germany?s madness.? Langer war vom amerikanischen Geheimdienst mit einer Fernanalyse Hitlers beauftragt worden. Er attestiert ihm einen ?Messias-Komplex?, der sich in der Zeit nach der Landsberger Festungshaft voll entfaltet habe. Langer illustriert seine Diagnose mit einem Monolog seines Fernpatienten:
?Mein Gefühl als Christ führt mich als Kämpfer zu meinem Herrn und Heiland. Es führt mich zu jenem Mann, der einst in der Einsamkeit, umgeben von nur wenigen Gefolgsleuten, die Juden als das erkannte, was sie waren und der die Männer zum Kampf gegen sie zusammenrief und der, bei Gott! am größten war nicht als Leidensmann sondern als Kämpfer. In grenzenloser Liebe, als Christ und als Mann, lese ich die Stelle, die erzählt, wie der Herr sich endlich erhob in seiner Macht und die Geisel nahm, um die Brut der Nattern und Vipern aus dem Tempel zu treiben. 2000 Jahre später verneige ich mich tief bewegt vor dem beispiellosen Kampf, den er führte gegen die Welt, gegen das jüdische Gift, und ich stelle fest, dass dies der Grund war, weswegen er am Kreuz ster-ben musste.? 
Nach dem Anschluss Österreichs 1938 ließ Hitler die engere Heimat des Va-ters, Döllersheim und Umgebung, in einen Truppenübungsplatz verwandeln. Die Geburtsstätte des Vaters wird von der Wehrmacht zerschossen und nieder-gewalzt. ?Es hat ganz den Anschein?, meint Friedrich Heer, ?dass die Vernich-tung Döllersheims direkt über Auftrag des Führers erfolgte ? aus irrsinnigem Hass gegen seinen Vater, der vielleicht einen Juden zum Vater hatte.?
Im selben Jahr 1938 sagt Hitler in der Reichskanzlei in Gegenwart von Hans Frank (der ihn Anfang der 30er Jahre in Prozessen gegen die Anschuldigung vertreten hatte, jüdischer Herkunft zu sein): ?In den Evangelien riefen die Juden dem Pilatus zu, als er sich weigerte, Jesus zu kreuzigen: ?Sein Blut komme über uns und unsere Kindeskinder!? Ich muss vielleicht diesen Fluch vollstrecken.?
Vergleichen wir Hitler in seiner religiösen Entwicklung nun mit denen, die ihm in seiner antisemitischen Terrorherrschaft am nächsten standen, vor allem mit Himmler, Höß und Goebbels. Ein weiteres illustratives Beispiel für ein katholisch, kühl, geprügelt erzogenes Kind wäre übrigens der Auschwitz-Arzt Dr.Josef Mengele, der bis zu seinem Badeunfall in Brasilien an seinem vernichtenden Antijudaismus festhielt. Auch ihn scheinen die Züchtigungen des Vaters ?nicht sehr beeindruckt zu haben, denn er erwähnt sie in seinen Auf-zeichnungen nur beiläufig und ohne jede Bitterkeit.  Die Biographien dieser mörderischen Judenfeinde sind gekennzeichnet durch eine verhängnisvolle In-terferenz zwischen der eigenen Familiensituation und der Vater-Sohn-Mutter-Konstellation des Christentums, in dem sie aufwuchsen. Hitler, Höß und Goebbels waren zu rebellisch, um im väterlichen Garten Gethsemane ?Dein Wille geschehe? zu sagen. Sie verweigerten das Opfer des eigenen Ich und verschuldeten dadurch den lebenslangen Zorn des väterlichen Über-Ich. Um diese Schuldgefühle zu besänftigen, erfüllten Höß und Goebbels den Priester-Wunsch des Vaters, in dem sie sich als fanatisch gläubige Jünger in den Dienst einer neumythischen Erlöserfigur stellten. Hitler selbst suchte die Vaterliebe, indem er sich mit dem Sohn identifizierte ? aber einem, der sich, statt für den ?Alten? sich zu opfern, gegen das Volk des Alten (Testamentes), des alten Vatergottes  wütend kämpft..
Der eigene, als Verfolger erlebte ?alte Herr? wurde von allen fünfen mit dem alten Volk des alten Gottes in eins gesehen, Furcht und Hass gegen den ersteren auf das letztere abgeleitet, das nun zu verfolgen war.
Die hier dargestellte Erklärung des persönlichen Antisemitismus von Adolf Hitler ist eigentlich recht einfach: Als Verbindung einer pathogenen Familienmythe mit einer pathogenen religiösen Mythe; als Verschmelzung einer persönlichen Hassliebe mit dem empathischen Zorn, zu dem die religiöse Mythe auffordert. Dass diese einfache Erklärung in einem halben Jahrhundert der Forschung, in einem riesigen Apparat psychologischer Analysen des Phänomens Adolf Hitler bisher vernachlässigt wurde, erscheint mir als Hinweis dafür, dass es immer noch als ungezogen gilt, Eltern (und Eltern-Religionen) anzuklagen.

6.    Huber ? Brille ab!

Weder die jüdischen Kolonien im hinduistischen Indien noch im buddhisti-schen China  wurden jemals verfolgt, auch in islamischen Kulturen lebten die jüdischen Gemeinden ? vor dem vom christlich-abendländischen Antijudaismus erzeugten Zionismus und der Shoah ? in Sicherheit  Das christliche Europa da-gegen hat mit Schottland an seiner nordwestlichen Grenze nur ein einziges Land, wo Juden nie verfolgt wurden. Dass der planmäßige Massenmord gerade in Deutschland organisiert wurde, hat seine Ursache nicht zuletzt in der ?Ver-schwörung der deutschen Eltern gegen ihre Kinder? (Morton Schatzman), wel-che wiederum viel mit Martin Luther zu tun hatte, den Landesbischof Sasse 1938 als ?größten Antisemiten seiner Zeit? rühmte:  mit dem Kirchenrebell, der nach eigenen Worten von der Mutter ?bis aufs Blut? geschlagen worden war und vom Vater so sehr ?gesteuppt … dass ich ihm floh und dass ihm bang war, bis er mich wieder zu ihm gewehnet?. Carl-Heinz Mallet arbeitet sehr stringent her-aus, wie sich Luther?s pädagogisches Konzept aus dessen unbewältigter Kind-heit heraus entwickelt, wie seine Katechismus-Methode sogar im katholischen Bereich adäquat umgesetzt wurde und wie Luther?s unerbittliche Gehorsams-forderung ihre Wirkungen bis in unsere Tage entfaltete. Mit den immer griffbe-reiten biblischen Belegen kann Luther klarstellen, dass nur lieblose Eltern ?der Rute schonen? und ihren ?Drecksack? von Kind nicht ?vielmal stäupen? (vgl.Sprüche 13,24), dass aber solch lieblose, Kinder schonende Eltern wegen ihrer Versäumnisse bei der  Kindererziehung sich die Hölle verdienen.   Mit Bezug auf eine andere Bibelstelle (Ex 21,15) beweist er, dass man ungehorsa-me Kinder töten soll; und den Vers 17 derselben Stelle übersetzt er ruck-zuck so: ?Wer seinem Vater oder seiner Mutter flucht, der soll getötet werden, … flugs Kopf ab, Kopf weg, auf dass das Land nicht voll Gottloser werde.?
Lange her? Noch anno 2002 erinnert sich Michael Brenner: ?Als Schüler in einer bayerischen Schule starrte ich dreizehn Jahre lang mit gemischten Gefüh-len auf das Kreuz an unserer Klassenzimmerwand. Einerseits war es nicht ge-rade mein religiöses Symbol, andererseits konnte ich mich im Angesicht des Gekreuzigten an dem Gedanken erfreuen, doch nicht der einzige Jude im Klas-senzimmer zu sein. Unter dem Kruzifix gab es in der Grundschule der bayeri-schen Kleinstadt auch zu Beginn der siebziger Jahre ohne große Widerrede noch körperliche Züchtigung. Gesetze hin, Gesetze her, im Angesicht des Got-tessohnes züchtigte unser gestandener Klassenlehrer seine missratenen Schü-ler ? mal mit dem Lineal, mal direkt mit der Hand (?Huber ? Brille ab!?).  Zeit-gleich zu Beginn dieser siebziger Jahre beschrieb Th.W.Adorno in ?Erziehung nach Auschwitz? die Methode ?Disziplin durch Härte? als Faktor des Faschis-mus: ?Wer hart ist gegen sich, erkauft sich das Recht, hart auch gegen andere zu sein, und rächt sich für den Schmerz, dessen Regungen er nicht zeigen durf-te, die er verdrängen musste.?  Diese Beschreibung gilt wohl auch für den Je-suitenpater Ballerini, der 1897 in der ?Civiltà Cattolica? die schlimmen Zustände an den Volksschulen der Stadt Wien so kritisierte: ?Auch mussten die Bildnisse des gekreuzigten Christus von den Wänden entfernt werden, da sie die zarten Empfindungen der Kinder seiner Kreuziger hätten verletzen können.?  (Dreißig Jahre später, 1927, kamen in allen Volksschulen Italiens auf Anordnung Mussolinis Kreuze an die Wände).
Ob Sigrid Chamberlain zu Recht vermutet, ?dass die Juden den Hass der so-genannten Christen auf sich zogen, weil sie wesentlich liebevoller als diese mit ihren Kindern umgingen?,  sei dahingestellt. Die christliche Familienmythe vom zwecks Erlösung gefolterten, gehorsamen Sohn, hängend zwischen liebendem Vater oben und schmerzensreicher Mutter unten, hat jedenfalls millionenfach in Familien, vor allem deutsche Familien hineingewirkt und bei den liebreich ge-züchtigten Kindern einen Hass aufgestaut, der sich, durch Hitler losgelassen, ausgerechnet gegen diejenige religiöse Kultur wandte, die das Sohnesopfer seit Isaak ablehnte: ?Wenn es die Juden nicht gäb?, dann müsst? man sie erfinden?, hat der mit der Peitsche erzogene Hitler einmal gesagt.

7.    Heiliges Skript und Rollenzuweisung

Aber die verleumderischen Erfindungen der Evangelisten, ihre Schuldver-schiebung von den Römern ? in deren Weltreich die junge Sekte der Christen überleben sollte ? auf die Juden waren ja völlig ausreichend, um ?Schuldige an allem? zu finden. Ihr Skript enthielt das Grundmaterial für alle Schlechtigkeiten, die man in zwei christlichen Jahrtausenden auf die Juden projizierte, für alle Rollen, die sie zu spielen hatten:

Verschwörer und Anstifter
?Die Protokolle der Weisen von Zion?, das wohl folgenschwerste antisemiti-sche Pamphlet, geht aus von einem geheimen konspirativen Treffen jüdischer Verschwörer auf dem Prager Judenfriedhof, wo sie strategische Überlegungen zur Erringung der Weltherrschaft anstellen. Unterstützt vom zaristischen Ge-heimdienst fanden die ?Protokolle? weltweite Verbreitung und Eingang in Hitlers ?Mein Kampf?. Jüdische Verschwörer wurden nun an vielen Orten ausgemacht: Im ?internationalen Finanzjudentum?, der sogenannten ?goldenen Internationa-le? des Kapitals ebenso wie in seinen Bekämpfern, der ?roten Internationale? des Kommunismus, der ja, wie alle Antisemiten wussten, von Juden dominiert war.
Das Urbild all dieser Verschwörungsgruppen bildeten die Pharisäer, Hohen-priester und Schriftgelehrten, welche sich gegen Jesus verschworen und bei seiner Kreuzigung im Hintergrund die Strippen zogen.     

Untreue, Verräter, Judasse
?Wer nahezu nichts mehr glaubt, glaubt immer noch, dass Judas Jesus an dessen Feinde verraten habe?, schließt W.Harenberg aus den 91 Prozent einer deutschen Umfrage von 1967.  Wer seinen Freund mit einem Kuss verrät, ist schließlich der Ausbund von Perfidie.
Der Archetyp des Verräters hat für den Schweizer Psychotherapeuten Ema-nuel Hurwitz  eine pädagogisch-psychologische Bedeutung, die maßgeblich zur Tiefenschicht des Antisemitismus gehört. 
Hurwitz geht aus von der psychotherapeutischen Praxis, in der sich zeigt, wie oft sich Kinder von Erwachsenen ?real verraten, gefährdet und bedroht? fühlen. ?Die sich häufenden Berichte von kindlichen Gewaltopfern und die Statistiken über Kindsmissbrauch und Gewalt gegen Kinder stützen diese Befunde.?
So braucht es denn auch nicht zu wundern, dass der Verräter Judas für christliche Deutsche psychisch dominanter ist als Jesus: Für den Einzelnen, der mit Jesus fühlt, zieht Judas, der Archetyp des Verräters, alle seelischen Spuren erlittener Verrate auf sich.
Kein Wunder auch, wenn  sich  im ganzen christlichen Kulturraum der Brauch des ?Judasbrennens? entwickelte, der von Brasilien bis zum Schwarz-wald noch heute geflegt wird. Um 1850 schreibt ein bayerischer Beobachter: ?Beim Verbrennen des Strohmannes entstand immer ein großer Jubel, als wür-de dadurch der Verräther des Heilands in Person bestraft.?  In Viernheim an der Bergstraße zog bis ins 20.Jahrhundert die katholische Jugend mit den ver-kohlten Scheiten des Osterfeuers durch das Dorf und schlug mit dem Ruf ?Der Jude ist verbrannt? gegen Türen und Läden der Häuser, wo Juden wohnten. Noch 1956 findet der bayerische Volkskundler H.Moser ?Gegenwartsbelege für das Judenfeuer? in der Gegend von Aichach, Schrobenhausen und Dachau (!). Im Schwarzwalddorf Grünmettstetten wird noch heute an jedem Karsamstag ein lebensgroßer, ausgestopfter Judas verbrannt, einschließlich eines bedeutsa-men, an Judas? Gürtel befestigten Geldbeutels. Das ?urige Abschlussfest für die Schulabgänger? ist traditionell das Privileg der Achtklässler, und neuerdings dürfen ? man ist ja modern ? auch die ?Mädle? mitzündeln.  
Ob die Evangelisten dem Verrater gezielt den Namen ?Judas? gegeben ha-ben, um durch den in vielen Sprachen gegebenen Gleichklang mit ?Juden? die-se zu diskreditieren, ist nicht belegbar, und Pinchas Lapides Rechenaufgabe deshalb nicht lösbar: ?Hätte jener Ischarioth damals Jakob, David oder Jona-than geheißen anstatt Judas ? ein  Name, der nur allzu leicht zur Symbolgestalt aller Juden verallgemeinert werden konnte ? wer weiß, wie vielen Juden viel-leicht der Martertod von Christenhand erspart geblieben wäre.? 

Geldmenschen
?Dreitausend Dukaten ? gut!?: So charakterisiert Shakespeare seinen jüdi-schen Kaufmann Shylock schon mit den ersten drei Worten seines Textes, und er schlägt damit Saiten an, welche die Evangelisten spannten. Nicht nur, dass Judas, der apostolische Kassenwart, von den jüdischen Verschwörern einen Verräterlohn von 30 Silberlingen kassiert. Für 300 Denare hat er schon früher (zu sozialen Zwecken) das Nardenöl verkaufen wollen, das ihm die Sünderin aufs Haupt goss (Joh 12,5).
Einen anderen Beitrag zum Stereotyp leistete Jesu Vertreibung der Geld-menschen:?Und Jesus ging in den Tempel und trieb alle, die im Tempel kauften und verkauften, hinaus, stieß die Tische der Wechsler und die Sitze der Tau-benverkäufer um und sprach zu ihnen: ?Es steht geschrieben: Mein Haus soll ein Haus des Gebetes genannt werden. Ihr aber macht es zu einer Räuberhöh-le? (Mt 21, 12-13; ähnlich Lk 19, 45-46).
Ausgeschlossen vom Landerwerb, dem Militär, dem Staatsdienst, den Handwerken; stark eingeschränkt als Ärzte und in allen akademischen Berufen, blieb Juden im christlichen Europa als ökonomische Nische nur der Geld-, Vieh- und Warenhandel. Hier übten sie eine für die Wirtschaft ebenso positive wie im sozialen Ansehen negativ besetzte Funktion aus und waren wegen drückender Sondersteuern zu riskanten Deals gezwungen: „Wo niemand mehr leiht, leiht noch der Jude“.  Ihren christlichen Mitmenschen gelang es so, die Juden ge-nau in die Rolle zu drängen, die ihnen schon die Evangelisten auf den Leib ge-schrieben hatten. Das Gros der Juden blieb zwar so bettelarm, wie es das Kli-schee des ?Betteljuden? oder ?Trödler Abraham? vermittelt, ebenso wie der hohe Anteil hebräischer Wörter an der ?rotwelschen? Spreche der Vaganten und ?Gauner? ( dies von hebr. ganew = Dieb). Dem anderen, biblisch gestützten Kli-schee des ?Geldjuden? tat das freilich keinen Abbruch. Den früh- bis spätkapita-listischen Reichtum der Fugger, Welser, Rockefeller sah man ? mit Jean Cal-vins sehr gerne übernommener Lizenz, neben Gott doch auch dem Mammon (Mt 6,24) zu dienen ? als Zeichen unternehmerischer Tatkraft und göttlichen Segens (vom Reichtum der Kirche ganz zu schweigen). Nur in den Taschen der Rothschilds klingelten für christliche Ohren immer die dreißig Silberlinge, für die der Jud(as) den Christ(us) verkauft hatte.

Vergifter
Den kuriosesten Ursprung und Werdegang hat das antijüdische Klischee des Vergifters. Es wurzelt in dem durstlöschenden Trank, der Jesus am Kreuz an-geboten wird. Bei Matthäus ist dieser Trank mit Galle, bei Markus mit Myrrhe gemischt. Nun waren es zwar ein paar mit einem Rest von Mitleid begabte rö-mische Legionäre, die Jesus diesen Trank reichen, aber bald entsteht in der Legende das Soldatenduo Longinus-Stephaton. Während Longinus derjenige ist, der Jesus mit der Lanze in die Seite sticht und durch das auf seine Augen fließende Blut nicht nur von seiner Blindheit (!) geheilt, sondern auch gläubig wird, bekommt Stephaton mit seinem essiggetränkten Schwamm schon in Bil-dern des 9.Jahrhunderts eine ?phrygische Mütze? auf, die ihn als Juden aus-weist.  Aus dieser Assoziation von Jude, Gift und Galle entwickelt sich eine ganze Palette von Kennzeichnungen: Von der gallengelben Farbe des Juden-sterns über mörderische Vorwürfe der Brunnenvergiftung in der Pestzeit bis zur Vergiftung des zum Bier benötigten Hopfens, so im bayerischen Unterfranken noch im 19.Jahrhundert. Und noch 1892 lehnte ein christsozialer Abgeordneter im niederösterreichischen Landtag den Einsatz jüdischer Ärzte bei der Cholera-bekämpfung ab, weil die es darauf anlegten, dass von der christlichen Bevölke-rung ?recht viele sterben.?    Hatte Kirchenlehrer Augustinus noch gemeint, die Juden seien ?bitter wie Galle und sauer wie Essig geworden, da sie dem leben-digen Brot Galle und Essig zur Speise reichten?. Erkennt Augustinermönch Mar-tin Luther sie als ?zornig, bitter, giftig, unsinnig auf ihn … dass sie ihn töten woll-ten? und beschreibt er die jüdischen Ärzte als wahre Vergiftungskünstler, so antwortet Hitler seinem Vertrauten Eckart auf dessen Stichwort ?Liebet eure Feinde?:
?Feinde ja … aber dass wir die reinen Bestien, Menschen, die keine Liebe der Welt davon abbringen kann, uns Seele und Leib zu vergiften, ans Herz schlie-ßen, das zu ertragen ist Christus nicht im Traum eingefallen. Er tut es ja selber nicht. Im Gegenteil, er haut zu, so fest er kann …?   

Kindermörder
Der Vorwurf des Kindermordes, häufigster Anlass für antijüdische Pogrome, wurzelt zunächst im Buch Genesis, wo der Todesengel Jahwes durch Ägypten geht und in jedem Haus den Erstgeborenen tötet, außer den Häusern der Ju-den, die ihre Türbalken mit dem Blut des frisch geschlachteten Lammes mar-kiert hatten (Ex 12, 29-30): Generell wurde ja die Blutrünstigkeit und Vergel-tungsgerechtigkeit des ?Alten Testaments? ? im Gegensatz zur Güte und Menschlichkeit der Botschaft Jesu ? den Juden attribuiert.
Entsprechendes gilt auch für den Betlehemitischen Kindermord (Mt 2,16), der vom jüdischen König Herodes in Auftrag gegeben wurde, um den neugebore-nen Jesus zu töten.
Den stärkste empathische Affekt entspringt allerdings aus der bereits ange-sprochenen psychischen Simultanpräsenz von Jesuskind und Gekreuzigtem. 

In Streicher?s antisemitischem (und antiklerikalen) Hetzblatt ?Stürmer?, Ostern 1933.
Bildunterschrift: ?Die Juden haben Christus ans Kreuz geschlagen und ihn tot geglaubt. Er ist auferstan-den. Sie haben Deutschland ans Kreuz geschlagen und tot geglaubt und es ist auferstanden herrlicher als je zuvor.?
8.    Was sonst?

Kurz vor Weihnachten, am 19.Dezember 2001, verhandelte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof meine Klage wg. Kreuz im Klassenzimmer. ?Hier wurde das Kreuz Christi beleidigt?, rief ein katholischer Priester in der Verhandlungspause, nachdem ich meine 14-seitige Klagebegründung (fundiert auf Bibel und Grundgesetz, Kant und Kierkegaard) vorgetragen hatte, zum Publikum. ?Lasset uns beten für das Kreuz!? Nun hub ein Rosenkranz an, und erst später erfuhr ich, dass ich schon während meines Vortrags von hinten mittels Kreuzgesten exorziert worden war.
Es half nicht. Vor Dreikönig erfuhr ich beim Interviewanruf durch einen Münchner Journalisten, dass ich gewonnen hatte. Wenige Tage später rief mich ein jüdischer Münchner (pensionierter Ministerialbeamter) an, um mir für mei-nen Einsatz zu danken. Ob er wie ich der Ansicht sei, dass das Kreuz die Pfahlwurzel des Holocaust ist, fragte ich zurück. ?Natürlich. Was sonst?? war seine Antwort. ?Als Jude fühlt man sich immer angeklagt, wenn man ein Kreuz sieht.?
Behutsamer formulierte der Münchner Judaistik-Professor Michael Brenner in der SZ, ob das Klassenzimmer nicht ein Ort sein sollte, an dem sich alle ?glei-chermaßen zu Hause fühlen können? … Ein Symbol, mit dem sich nur ein Teil der Schüler identifizieren kann, verbindet nicht, sondern entzweit.? 
Zustimmen wird mir sicher auch Daniel Goldhagen, der in ?Die katholische Kirche und der Holocaust? (erschienen kurz nach meinem Buch im Jahr 2002) unter Berufung auf den katholischen Theologen Carroll prophezeit: ?…doch das Kreuz, das zentrale und höchst beziehungsreiche Symbol des Katholizismus, wird zusammen mit dem aus der Bibel abgeleiteten antisemitischen Schmähruf ?Christusmörder?, wie Carroll argumentiert, wohl auch künftig Antipathie gegen Juden hervorrufen.?
Wird die?fast 2000jährige Blutspur? also weitergehen, die Lapide aufzeigt ?von Golgatha …  bis in die Gasöfen von Auschwitz: vom Mythos des ?Chris-tusmordes? bis hin zur Tatsache des Völkermordes??   Hatte Hans-Jochen Gamm in seiner pädagogischen Studie von 1966 unrecht, als er meinte: ?Das Kreuz und der blutende Gehenkte an ihm aktualisieren ständig die ?Widersa-cher?-Rolle der Juden im Heilsplan Gottes neben dem Schock, den das Kind von den Umständen der Passionsgeschichte überhaupt erhält??   Werden die-se Nachdenker genauso vergeblich gemahnt haben wie Kierkegaard um 1850 oder wie der jüdisch-amerikanische Philosoph Dagobert Runes, der 1955 so deutlich wurde: ?Keine Religion außer der christlichen hat in ihre Theologie ein solch grausiges Kapitel hineingewoben … Keine andere Religion, ob Buddhis-mus, Hinduismus, Konfuzianismus oder Taoismus, Islam oder Shintoismus, kein Glaube in der Welt hat solch ein schreckliches Schema empörenden Has-ses in seine Glaubenssätze eingebaut … Es ist die einzige Religion, die den Galgen zum Symbol der Liebe machte … All die mannigfaltigen Giftblumen sprossen aus derselben Saat, dem christlich religiösen Antisemitismus. Das christliche Kind trinkt seinen Judenhass in der Mutter Kirche. Dieser erste Ein-druck der grausigen Kreuzigungserzählung wird nie vergessen … Manche Theologen sagen, es sei nicht angebracht, die grundlegenden Glaubenssätze zu ändern. Aber ist es angebracht, Glaubenssätze weiter zu überliefern, die durch Jahrhunderte … zu unbeschreiblichen Massakern führten?? 

Mein Buch wurde achtmal rezensiert. ?Verrissen? im Publik-Forum und der katholischen ?Tagespost?, dringend empfohlen von humanistischer und atheisti-scher Seite, erhielt es die stärkste christliche Zustimmung von Prof. Heinz Röhr, dem emeritierten Frankfurter Ordinarius für Vergleichende Religionswissen-schaft, im ?Reformierten Volksblatt? (2/2004) der Schweizer Reformierten Chris-ten: ?… ein zutiefst humanistisches Buch … fulminant geschrieben. Ich habe es mehrfach gelesen und immer wieder Neues darin entdeckt. Der Verfasser ist durch seinen Kruzifix-Prozess gegen den bayerischen Staat bekannt geworden, den er gewonnen hat. Das Buch ist ein einziger Beleg dafür, dass Riggenmann Recht hatte.?
Ein fulminanter Verkaufserfolg ist mein Buch freilich in keinster Weise. Zwar finden täglich Dutzende Fernsehkrimis ein gespanntes Publikum und fiktive Kriminalromane fesseln Hunderttausende von Lesern mit der Frage, wer der Mörder ist und welches sein Motiv ? aber die Motive eines sechsmillionenfa-chen, ganz realen Massenmordes scheinen nur wenige anzugehen ? vielleicht weil, wie Pater Edward Flannery meint, ?Christen nicht dazu neigen, historische Studien über den Antisemitismus zu lesen?    

9.    Zufall?

Nein, auch das ist ja kein Zufall. Wer liest schon gerne Dinge, welche das ei-gene Grundschema der Weltorientierung in Frage stellen? Ganz sicher kein Zu-fall ist es auch, dass ausgerechnet in diesem Gottmitdirduland, in genau der ?Hauptstadt der Bewegung?, wo Hitler als Bierkellerredner Karriere machte, von einer rechten Regierung die tägliche Unterrichtung mit Ausrichtung auf Hinrich-tung gesetzlich eingerichtet wurde ? allerdings nur für die Schulen mit dem höchsten Anteil muslimischer und anderer nichtchristlicher Kinder, nämlich Volksschulen. Eine ?pädemagogische? Praxis, die weder Proteste des Bayeri-schen Elternverbandes, noch die Bedenken sensibler Christen mit dem Erzie-hungswissenschaftler Helmut Zöpfl an der Spitze, noch die Prozesserfolge von Eltern und (einem!) Lehrer verändern konnten.
Kein Zufall auch, dass dieselbe Regierungspartei, die muslimischen Lehre-rinnen das Kopftuch im Klassenzimmer (m.E. mit Recht)  verbietet, weil es die staatliche Neutralitätspflicht verletzt, in denselben Klassenzimmern das Zeichen derjenigen Religion vorschreibt, die man im Parteinamen führt. Das Neutrali-tätsgebot der Verfassung wird von der Parteiführung ebenso ausgeblendet wie die eklatante Deplatziertheit dieses Zeichens gerade hier und heute, nach sei-ner historischen ?Entwicklung zu einem antisemitischen Symbol und einer anti-semitischen Waffe? (Daniel Goldhagen ).
Als ich die Begründung der Entscheidung vom Gericht erhielt, staunte ich nicht schlecht: Als einen ?nach seinen eigenen Angaben überzeugten Christen … der das Christentum, so wie er es versteht, bejaht und nur eines seiner Sym-bole, das dann aber ganz entschieden, ablehnt?, und zwar ?auf der Grundlage des von ihm als seine Glaubensbasis bezeugten Christentums? hatten mich die Richter aus unerfindlichen Gründen geoutet. Vielleicht deshalb, weil ich das Kruzifix für meine Drittklässler 1993 durch ein Misereor-Motiv ersetzt hatte (zwei Menschenhände, schwarz und weiß, beim Brotteilen, Hintergrund blauer Pla-net), das mir den Kern der christlichen Ethik viel kindgemäßer zu zeigen schien? Der Pfarrer hatte abgelehnt, nur der zu Tod Gefolterte vermittelt diese Ethik. Oder weil ich 1995 zu diesem Misereorbild noch Raffaels ?Madonna Tempi? angebracht hatte, mit Jesus auf dem Schoß? Der Schulrat hatte abge-lehnt, Jesus lebendig geht nicht. Oder weil ich (mit Bezug auf Kants rational be-gründete Ablehnung von Gottesbildern ) in der Verhandlung sieben Bibelstel-len zum Zweiten Gebot zitiert hatte ( Ex 20,4; Ex 34,17; Lev 26,1; Deu 4,15; Deu 5,8; Deu 26,15; Weisheit 13,10-19), welche jede Art von Gottesbildern ve-hement verbieten? Sollte ich deshalb schon Bekenner der ?blutrünstigsten aller Religionen? sein, wie ich das Christentum, das Theologenehepaar Thomas und Gertrude Sartory zitierend, in der Verhandlung bezeichnet hatte?
Schriftlich erhob ich Einspruch gegen diese für mich beleidigende Charakte-risierung als Anhänger einer vernunftfeindlichen Offenbarungsreligion. Die Rich-ter lehnten ab, geschrieben ist geschrieben, wo kämen wir da hin.
Ausgerechnet zwei jüdische Autoren haben mir aber jüngst wieder verdeut-licht, wieviele Quäntchen Wahrheit doch in der gerichtlichen Christianisierung des Kreuzgegners stecken. Einmal Frank Andermann mit seiner Verve für den rebellischen Galiläer Jeschu  und gegen den ?Jesushass … der Kirche, die ihn am Kreuz lassen möchte, bis zum Jüngsten Tage?. Und Daniel Goldhagen macht klar, dass der christlich begründete Antisemitismus den ethischen Prinzi-pien des Christentums selbst widerspricht; dass der in Kreuz und Evangelien angelegte Judenhass den Christen selbst seelischen Schaden zufügt; und wie hätte Jesus selbst, der als gläubiger Jude ?kein Iota vom Gesetz vergehen? las-sen will (Mt 15, Lk 16) und der das Leben so hochschätzt (Mt 8, 22:?Lass die Toten ihre Toten begraben?), auf seine Darstellung als toter Herrgott, der über-all rumhängt, um Kinder zu schrecken, anders reagieren können als mit einem vehementen Ausbruch heiligen Zorns?

Einen heiligen Zorn gegen inhumane Sozialstrukturen scheint auch der Jesu-itenpater Alfred Welker zu haben, den ich im Vorwort meines Buches als Bei-spiel engagierten Christentums erwähne: Padre Welker, der in der kolumbiani-schen Drogenhochburg Calí eine Schule für Favelakinder eingerichtet hat und ständig in Gefahr ist, von Leuten, die vom diesseitigen Elend profitieren, ins Jenseits befördert zu werden, wird vom deutschen Besucher gefragt, warum er an der Pinnwand hinter seinem Schreibtisch einen Zeitungsausschnitt über Auschwitz hängen habe. ?Ja?, sagt der Padre, ?Auschwitz, das ist eine Frage, die jeden Menschen guten Willens beschäftigen muss.? 
Genau über diesen Padre berichtete meine Ulmer Tageszeitung im Januar 2004 auf ihrer Seite ?Christliche Welt?. Als ich den Bericht ausgeschnitten hatte und den Zeitungsausschnitt herumdrehte, sah ich, was auf der Rückseite stand: Die Danksagung zur Beerdigung meines Vaters, der neun Tage vorher gestor-ben war. Bei der Trauerfeier hatte unser CSU-Landtagsabgeordneter die sehr soziale, ?echt humanistische Haltung? meines Vaters gewürdigt, der über fünfzig Jahre CSU-Mitglied, lange Schulrektor, zeitweise ehrenamtlicher Bürgermeister und über fünfzig Jahre lang Leiter des Kirchenchores gewesen war. Bei der Ar-beit an meinem Buch hatte er mich unterstützt, indem er mir etwa Zeitungsaus-schnitte der katholischen ?Tagespost? brachte, die ich im Buch zitierte.

Es gibt keine Zufälle.
Oder wie groß ist die rationale Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Danksa-gung meines toten Vaters ausgerechnet auf der Rückseite eines Artikels er-scheint, der das Christentum, im einzigen derartigen Beispiel meines Buches, im langjährig einzigen derartigen Bericht der Zeitung, so humanistisch be-schreibt, wie es mein Vater zeit seines Lebens verstand? Da kann ich nicht an-ders, als die zufällige Koinzidenz mit meinem Buch als Zeichen zu verstehen, dass mein Vater ganz wörtlich ?hinter ihm steht? ? und hinter seinem Sohn, den der Humanistische Bund für seinen Kampf gegen das Klassenzimmerkreuz mit dem Ossip-Kurt-Flechtheim-Preis geehrt hatte.
?Wie ist es nur möglich, dass so viele Menschen über die grundsätzlichen Fragen hinweggehen?? fragt Jürgen Müller-Hohagen in seinem Buch ?Ge-schichte in uns ?   Seelische Auswirkungen bei den Nachkommen von NS-Tätern und Mitläufern?.
Mein Vater, 1920 als Sohn eines Landwirts und dorfbekannten Nazi-Gegners geboren, war beim katholischen Jugendverband ?Neudeutschland?, aber nie bei der Hitlerjugend. Vom Philosophiestudium an die russische Front gekommen, zum Leutnant arriviert und mit beiden Eisernen Kreuzen ausgezeichnet, hat er bis zu seinem Tod unter dem Bewusstsein gelitten, durch seinen Einsatz als junger, mit dem Segen seiner Kirche  gegen den gottlosen Bolschewismus kämpfender Soldat wider Willen dazu beigetragen zu haben, die Räume Russ-lands für die Schergen der SS zu öffnen, die hinter der Front mit deutscher Gründlichkeit die Vernichtung des Gottesmördervolks besorgten. Mit meinem Buch verstehe ich mich auch als Delegierter meines Vaters, von ihm (unbe-wusst) beauftragt, die Tragik seines Lebens aufzunehmen und so aufzuarbei-ten, wie er selbst es nicht mehr konnte. Das meine ich ohne jeden esoterischen Obskurantismus, sondern in der Mehr-Generationen-Perspektive, die kulturpsy-chologisch unverzichtbar ist.

Die katholische Kirche zeigt dagegen wenig Willen, gründlich aufzuarbeiten und wiedergutzumachen, den von ihren heiligen Texten erzeugten, im Kreuz konkretisierten, so viele Generationen furchtbar verhassenden, momentan nur ?überwinternden?  Antisemitismus nicht ins dritte nachchristliche Jahrtausend zu transportieren. Sie aber könnte, wenn sie die Nägel lösen wollte, an denen sie selbst fixiert ist. Wenn sie das Bußgebet erinnern würde, das Papst Johan-nes XXIII. kurz vor seinem Tod verfasste: ?Wir erkennen, dass ein Kainsmal auf unserer Stirn steht … dass wir Dich in ihrem Fleische zum zweitenmal ans Kreuz schlugen. Denn wir wussten nicht, was wir taten …?
In welche Richtung eine christlich-schwesterliche Aufarbeitung im Sinne mei-nes Vaters und im Sinne eines nicht mehr angenagelten Juden Jesus gehen könnte, erklärt Padre Welker im Zeitungsartikel: ?Die kolumbianische Legende ist 450 Jahre alt. Eine Frau wollte der Kirche ein Kreuz stiften. Als es soweit war, brach sie ihr Gelübde und kaufte mit dem Geld ihren Bruder aus dem Ge-fängnis frei. Christus erschien ihr und sprach: ?Du hast verstanden, was ich will.??  
Verfasser:     Dr. Konrad Riggenmann
Sonnhalde 1
89284 Pfaffenhofen
Tel. 07302-919596
Email: konrig@t-online.de

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(c 1/2007)