Müller-Hohagen, Jürgen (Hg.): Stacheldraht und heile Welt

Untertitel: Historisch-psychologische Studien über Normalität und politischen Terror

edition discord, Tübingen, 1996

Das Buch ist vergriffen. Einige Exemplare sind noch über das Dachau Institut Psychologie und Pädagogik erhältlich.

Der Sammelband geht auf die gleichnamigen Dachauer Geschichtstage des Zeitgeschichtlichen Vereins „Zum Beispiel Dachau“ zurück, die 1995 unter der Schirmherrschaft von Hildegard Hamm-Brücher und der Leitung von Jürgen Müller-Hohagen stattfanden. Es handelte sich um eine interdisziplinär und international besetzte Tagung. Die verheerenden Wirkungen von Illusionen, an vermeintlich heilen (Teil-) Welten festzuhalten und den Blick vor dem Terror anderswo zu verschließen, haben das ganze 20. Jahrhundert durchzogen. Aufteilungen von heiler Welt und Stacheldraht, von Terror und Normalität, von schmutziger Politik und beschaulichem Familienleben stimmten an vielen Orten nicht. Das wurde in interdisziplinärem Austausch dargelegt, v.a. historisch und psychologisch/psychoanalytisch. Die Analysen kamen aus einer Reihe von Ländern: Deutschland (Klaus Drobisch, Hans-Günter Richardi, Almuth Sellschopp, Beatrix Vogel, Jürgen Müller-Hohagen), Österreich (Hermann Langbein), Argentinien (Osvaldo Bayer), Uruguay (Maren und Marcelo Viñar), Niederlande (Gonda Scheffel-Baars), Tschechien (Jaroslav N. Ondra). Für die Buchveröffentlichung wurden die Beiträge überarbeitet, z.T. erweitert und ihre Verbindungslinien nochmals vertieft aufgezeigt.

Zitate:

Marcelo Viñar: „Heute weiß ich: Schon das Wenigste ist fürchterlich und bleibt eingebrannt für immer. (…) Jede Person ist, unabhängig davon, ob sie es weiß oder nicht und ob sie damit einverstanden ist oder nicht, Zusammenfassung und Spiegel der Geschichte ihrer Zeit und ihres Ortes. Sie lebt dies in der außerordentlichen Spannweite dessen, wozu wir Menschen fähig sind, im Guten wie im Bösen. (…) Subjekt einer persönlichen und einer kollektiven Geschichte zu sein, dies ist eine Schnittlinie, aus der niemand entkommen kann. (…) Die Zeit des Horrors ist abgrundtief und zerstörerisch. Paradoxerweise ist sie gleichzeitig aber auch unauslöschlich; sie bildet eine Grundlage und erzeugt Wirkungen, die das Leben des Subjekts und vielleicht auch das seiner Nachfahren bestimmen“ (S. 111 f).

Hermann Langbein: „Darf ich schließlich eine Bitte, ein Verlangen an Sie richten! Es soll nicht so werden, dass – so wie ich es jetzt hier gesagt habe – jemand, der alt geworden ist, dann sagen muss: Meine Generation hat versagt. Es gibt heute Probleme, es wird morgen Probleme geben, ernste Probleme, die zusammenhängen mit dieser Ideologie, die Menschengruppen, ‚Rassen‘ in wertvollere, edlere, wichtigere und weniger wichtige einteilt. Ich bitte – oder darf ich sagen – ich verlange: Geben Sie solchen Ideologien keinen Raum! Geben Sie keinen Raum denen, die ein Führerprinzip errichten wollen und damit dem einzelnen die Verantwortung für sein Handeln abnehmen wollen! Geben Sie Kräften keinen Raum, die andere als ‚minderwertig‘ abqualifizieren und deren Schicksal als uninteressant betrachten wollen! Das ist – ich wiederhol’s – das ist nicht nur meine Bitte an Sie, das ist das, was ich von Ihnen zu erwarten hoffe. Und ich wäre froh, wenn das akzeptiert wird“ (S. 19 f).