Zur psychologischen Arbeit mit Verfolgten und ihren Nachkommen
Jürgen Müller-Hohagen
Einige Punkte
Wenn deutsche Psychotherapeuten – d.h. in der Regel Angehörige des Kollektivs der ehemaligen Volksgenossen und ihrer Nachkommen – mit überlebenden Verfolgten oder ihren Nachkommen arbeiten, geht das ohne Weiteres?
Nur die Verleugnung, dass es „so jemanden“ in der alltäglichen Beratung oder Therapie geben könne, durchbrochen zu haben, ist noch nicht alles.
Hinzu kommen muss die Reflexion der eigenen familiären und persönlichen Bezüge zur Nazi-Täterseite wie auch ein kritischer Blick auf allgemeingesellschaftliche Fortwirkungen.
Dazu gehört die Beteiligung der eigenen Profession, etwa der deutsche Psychologen, am Nazi-Reich. Immerhin war die Psychologie speziell für die Wehrmacht so wichtig, dass sie damals – 1941 – als Diplom-Studiengang eingerichtet wurde. Vor solchen Hintergründen gilt es, die eigenen Motivationen, mit Angehörigen der Verfolgtenseite zu arbeiten, kontinuierlich zu befragen.
Die Last der Geschichte bei den Opfern: Wenn dieses Thema überhaupt in den Blickwinkel gerät, so denken wir an das Leiden. Wir stehen erschüttert, beschämt, erschreckt vor den Überlebenden und ihren Nachkommen, versuchen, uns einzufühlen, mitzufühlen – und sind damit möglicherweise nicht weit davon entfernt, sie mit einem Mitleid zu bedenken, das sie letztlich nicht ernstnimmt oder sie gar zum „psychiatrischen Fall“ zu erklären tendiert. So etwas aber wäre eine Anmaßung und ist für viele von ihnen unerträglich. Ich denke an die erregte Äußerung eines Überlebenden in einer Diskussion während einer internationalen Tagung zu diesem Themenkreis in Hannover 1989: „Soll Hitler denn doch noch über uns gesiegt haben?“
Es gilt hier besonders, Ängste und Vorbehalte, die diese Klienten vielleicht zeigen, nicht vorschnell als Zeichen einer individuellen Pathologie zu sehen, sondern sie (auch) auf ihren ganz konkreten Realitätsgehalt zu befragen, dies bezüglich der Vergangenheit wie auch der Gegenwart.
So lässt sich mit dem – andererseits ja wichtigen – Konzept der Traumatisierung die Illusion aufrecht halten, die extrem belastenden Einwirkungen seien allein auf die Vergangenheit beschränkt, in der heutigen Situation komme davon nichts mehr vor. Die Ängste der Traumatisierten seien in bezug auf die Gegenwart also unberechtigt, „irrational“, „neurotisch“.
Jean Améry, Widerstandskämpfer gegen die Nazis und von ihnen ins KZ geworfen, hat schon in den sechziger und siebziger Jahren auf diese Tendenz hingewiesen. Er hat sich skeptisch zu den andererseits ja berechtigten Begriffen wie „KZ-Trauma“ oder „Überlebendensyndrom“ geäußert:
„Die scheinbar richtige Begriffsbestimmung wird falsch durch die Unterschlagung eines unerlässlichen Zusatzes, der da heißen müsste: (…) denn er (der Verfolgte; Zusatz M-H) erwartet mit guten Gründen jederzeit eine neue Katastrophe. (…) Ich (…) bin nicht traumatisiert, sondern stehe in voller geistiger und psychischer Entsprechung zur Realität da. Das Bewusstsein meines Katastrophen-Judeseins ist keine Ideologie. (…) Ich erlebe und erhelle in meiner Existenz eine geschichtliche Realität meiner Epoche.“
Mit Verfolgten aus der Nazizeit beziehungsweise mit ihren Nachkommen haben wir in Deutschland weit mehr zu tun im Rahmen von psychologischen Beratungsstellen und psychotherapeutischen Praxen, als wir üblicherweise annehmen. Typisch ist, dass die Verfolgung gar nicht oder erst spät oder nur nebenbei oder nur aufgrund aktiver Schritte der therapeutischen Seite thematisiert wird. Sehr oft aber kann es außerordentlich wichtig sein für ein adäquates Verstehen und für die angemessene Hilfestellung, über diese Hintergründe wenigstens in Ansätzen zu sprechen. Wie häufig aber wird dies von uns übersehen aufgrund eigener Verleugnung? Wie oft belegen wir solche Klienten von daher mit negativen Urteilen?
Dann übersehen wir, dass unerklärbar scheinende Verhaltensweisen, eigenartig wirkende Situationen in Beratung und Therapie Hinweise enthalten können auf traumatische Hintergründe noch über Jahrzehnte und über Generationen hinweg, und besonders auf Nazi-Verfolgung.
Jedoch: Nur mit Worten, mit Benennungen sind wir hier weder als Psychologen noch als Psychiater oder Psychotherapeuten hilfreich. Es ist auch sehr die Frage, wieweit wir in diesem Bereich mehr als das Recht haben, allenfalls und mit großer Vorsicht unsere Unterstützung anzubieten, aber ohne Omnipotenzgehabe, Therapie sei das „Mittel der Wahl“. Ich sehe die Gefahr, dass wir die Opfer der Verfolgung bzw. deren Nachkommen nun noch mit „wohlmeinender“ Therapie verfolgen und sie, wenn sie diese vielleicht ablehnen oder bald beenden, als unkooperativ, unzuverlässig, „therapieresistent“ abwerten und damit stigmatisieren.
Gerade angesichts der von den Nazis zentral gegenüber ihren Opfern praktizierten Dehumanisierung kann auch Psychotherapie – zumal in Deutschland – wohl nur mit Bescheidenheit ihre Dienste anbieten.
Die Opfer und ihre Nachkommen haben oft besondere Befürchtungen, erneut in Abhängigkeit zu geraten, ausgeliefert zu sein und dann fallengelassen zu werden. Diese Sorgen sind berechtigt nicht nur von der Vergangenheit her. Auch die Gegenwart ist oft sehr schwierig, immer noch oder schon wieder.
Täteridentifikationen kommen auch bei Therapeuten vor. Das aber wird nicht genügend reflektiert, weder in Analysen noch in Ausbildungsgängen oder Supervision. So jedenfalls sehe ich es für Deutschland. Die Täter schlafen ruhig, die mit ihnen Identifizierten auch.
Und eine große Gefahr bei uns Psychologen und Therapeuten, jedenfalls in Deutschland, besteht darin, dass wir die Überlebenden und ihre Nachkommen zu sehr nur als Opfer betrachten. Dann verkennen wir – und das hat Tendenz -, wie viel auf ihrer Seite an Widerstand gegen die Nazis geleistet wurde und in welchem Maße viele von ihnen nach 1945 dazu beigetragen haben, eine humanere Welt aufzubauen.
Wir Psychotherapeuten sind wesentlich dafür da, unseren Klienten zu einem besseren Leben zu verhelfen. Das bringt die Gefahr mit sich, uns selbst für bessere Menschen und unsere Profession sozusagen für „befreites Gebiet“ zu halten. Das sind Illusionen. Gerade deshalb verweise ich auf meine eigene Verleugnung. Und es können gefährliche Illusionen sein, gefährlich für die Opfer und ihre Nachkommen, wenn sie Hilfe bei uns suchen und stattdessen zu sehr unserer Abwehr begegnen.
Reemtsma (1991) schrieb mit Blick auf Folter: „Das individuelle Leid immer als individuelles, nie als ‚Exempel‘ zu verstehen, gleichwohl wachzuhalten, dass der Anschlag stets auch weiter zielte, bleibt Aufgabe aller, die das Leid derjenigen, die Opfer der Folter geworden sind, zu mindern suchen.“
Das gilt auch noch in der Begegnung mit den Nachkommen der Verfolgten.
Den durch Verfolgung bewirkten Bruch in der Lebensgewissheit, im Vertrauen zu Mitmenschen und Gesellschaft, diesen „Knick in der Lebenslinie“ kann Psychotherapie nicht „heilen“. Das wäre vermessen und naiv. Aber wir können versuchen, etwas von der ubiquitären Wirklichkeit der Verfolgung und ihrer Folgen wahrzunehmen und auszuhalten. Wir können versuchen, die tiefe Verunsicherung von Verfolgten wenigstens etwas zu teilen. Wir können die Verbundenheit zwischen Menschen zu stärken helfen. Wir können vom Widerstand lernen. Und wir können uns daran beteiligen, Schweigen und Verleugnung zu durchlöchern.