Seelische Auswirkungen bei Verfolgten und ihren Nachkommen

Jürgen Müller-Hohagen

Verfolgt wurden von den Nazis an erster Stelle die Juden. Doch aufzuzählen, wer noch alles verfolgt wurde, ist in Vollständigkeit kaum möglich. Es waren Kommunisten, Sozialdemokraten, Liberale, Katholiken, Protestanten, Ernste Bibelforscher (Zeugen Jehovas), Sinti und Roma (schon seit Langem als „Zigeuner“ gesellschaftlich abgewertet und ausgegrenzt), Homosexuelle, Prostituierte, Behinderte, Schriftsteller, psychisch Kranke, Bürgerliche, sogenannte Asoziale (wer alles konnte unter diesen dehnbaren Begriff fallen), tatsächliche oder vermeintliche Kriminelle, Adlige – sie alle nicht erst wegen konkreter Widerstandshandlungen, sondern es reichte allein die Zugehörigkeit.

Wer einmal in die Mühlen der Lager geraten war und sei es nur, weil er oder sie sich aus Naivität zum Beispiel im besetzten Griechenland zum Arbeitseinsatz im Reich gemeldet hatte, konnte so furchtbar behandelt werden, wie es bis heute in der Allgemeinheit kaum jemand weiß. Es genügte, Mitglied des Roten Kreuzes zu sein, um etwa als Pole ins KZ geworfen zu werden. Die winzigsten Kleinigkeiten genügten. Und Italiener wurden massenhaft aufs Grausamste traktiert, als Italien nach der Landung der Alliierten auf Sizilien den Waffenstillstand erklärte und daraufhin vom Reich besetzt wurde. Und, und, und. Und verfolgt mit äußerster Brutalität wurden alle, die sich widersetzten. Von der Biscaya bis vor Moskau. Vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945.

Über das Erlittene zu reden, war für die Überlebenden schwer, oft unmöglich. Auch gegenüber ihren Angehörigen. Manchmal ging es allmählich mit den Enkeln. Die Schwierigkeit, sich mitzuteilen, war bedingt durch das Übermaß der Leiden und Entwürdigungen, aber auch dadurch, dass die Gesellschaft in Deutschland und anderswo der Möglichkeit, davon etwas zu erfahren, nicht gerade aufgeschlossen gegenüber stand. Das galt für das Gesundheitswesen, für die Wissenschaften, für Justiz, Kirchen, Politik, Rententräger, die Stammtische sowieso, Schulen, Heimatvereine, Universitäten, Berufsvereinigungen, Klassentreffen, Familienfeiern, Flüchtlings- und Vertriebenenverbände, Nachbarschaften und so weiter. Das war so in Deutschland und ist es vielfach noch heute, natürlich mit Ausnahmen.

„Die Ermordung von wievielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben?“ So lautete 1963 die mehr als bittere Artikelüberschrift eines renommierten amerikanischen Psychoanalytikers deutscher Herkunft, Kurt Eissler, angesichts der damals gängigen deutschen Gutachtenpraxis in Rentenprozessen.

Und es dauerte überhaupt in der Welt lange und in Deutschland noch länger, bis die psychologischen Wissenschaften begannen, das Gewicht dieses Erlittenen und sein mögliches Weiterwirken bei Kindern und Kindeskindern auch nur im Ansatz zu erforschen. Dass solche Erkenntnisse bis heute sehr lückenhaft sind und vor allem dass sie noch viel weniger in der alltäglichen Praxis von psychologischer Beratung und Therapie zu Hause sind in Deutschland und auch anderswo, ist ein Hauptgrund für die Einrichtung des Dachau Instituts.

Mittlerweile, und auch das hat lange gedauert hierzulande, wird die Bedeutung von Traumatisierungen gesehen, dieser Fortschritt allerdings des öfteren um den Preis, dass unterschiedslos Trauma und Trauma nebeneinander gestellt werden, das Trauma der KZ-Opfer neben das der Soldaten, Flüchtlinge oder heutiger Scheidungskinder. Deshalb wird von Seiten des Dachau Institut Psychologie & Pädagogik immer wieder auf die Wichtigkeit genauen Differenzierens hingewiesen.

Und es soll an Sätze erinnert werden, wie sie der Auschwitz-Überlebende Jean Améry mit Blick auf Begriffe wie KZ-Trauma und Überlebendensyndrom gesagt hat: „Die scheinbar richtige Begriffsbestimmung wird falsch durch die Unterschlagung eines unerlässlichen Zusatzes, der da heißen müsste: (…) denn er erwartet mit guten Gründen jederzeit eine neue Katastrophe. Auf das Bewusstsein des vergangenen und die legitime Befürchtung eines neuen Kataklysmus (Katastrophe, plötzliche Vernichtung; Zusatz Dachau Institut) läuft alles hinaus. Ich, der ich beide in mir trage (…), bin nicht traumatisiert, sondern stehe in voller geistiger und psychischer Entsprechung zur Realität da. Das Bewusstsein meines Katastrophen-Judeseins ist keine Ideologie (…). Ich erlebe und erhelle in meiner Existenz eine geschichtliche Realität meiner Epoche, und da ich sie tiefer erfuhr als die Mehrzahl meiner Stammesgenossen, kann ich sie auch besser erleuchten. Das ist kein Verdienst und keine Gescheitheit, nur ein Zufallsgeschick.“

Amérys Warnung vor einer Psychologisierung und Entpolitisierung, einer bloßen Vergangenheitsbetrachtung ohne Blick auf fortwirkende oder neue Gefahren ist weiterhin aktuell.


Die Zeugnisse der Überlebenden, der berühmt gewordenen und der ganz unscheinbaren, in ihren Berichten, ihren Büchern, Vorträgen, in Filmdokumentationen und persönlichen Begegnungen, sie sind die Grundlage für jede ernsthafte Beschäftigung mit dem Nazi-Reich und seinen Verbrechen.

Aberkennung der Zugehörigkeit zur Menschheit, das war täglich praktizierte Realität in den Lagern, auf den Transporten, den Ämtern, sie fand statt in Erlassen, die das Leben vor allem von Juden ab 1933 systematisch einengten und ihnen ihren angeblichen Unwert vor Augen führen sollten. Menschen nicht mehr als Menschen gelten zu lassen, wie das Unerhörte alltäglich exerziert wurde, findet sich in den Berichten eines Primo Levi, eines Robert Antelme, eines Viktor Frankl, eines Bruno Bettelheim. Das als Zivilisationsbruch zu bezeichnen, ist noch schwach. Oft fehlen die Worte, um zu sprechen. Aber es gibt Worte, um zu hören, Worte wie diese:


Ist das ein Mensch?

Ihr, die ihr gesichert lebet
In behaglicher Wohnung;
Ihr, die ihr abends beim Heimkehren
Warme Speise findet und vertraute Gesichter:
           Denket, ob dies ein Mann sei,
           Der schuftet im Schlamm,
           Der Frieden nicht kennt,
           Der kämpft um ein halbes Brot,
           Der stirbt auf ein Ja oder Nein.
           Denket, ob dies eine Frau sei,
           Die kein Haar mehr hat und keinen Namen,
           Die zum Erinnern keine Kraft mehr hat,
           Leer die Augen und kalt ihr Schoß
           Wie im Winter die Kröte.
           Denket, dass solches gewesen.
Es sollen sein diese Worte in eurem Herzen.
Ihr sollt über sie sinnen, wenn ihr sitzet
In einem Hause, wenn ihr geht auf euren Wegen,
Wenn ihr euch niederlegt und wenn ihr aufsteht;
Ihr sollt sie einschärfen euern Kindern.
           Oder eure Wohnstatt soll zerbrechen,
           Krankheit soll euch niederringen,
           Eure Kinder sollen das Antlitz von euch wenden.


Primo Levi