Umgehen mit Täterschaft
Jürgen Müller-Hohagen
Dieser Ausdruck „Umgehen mit Täterschaft“ wird hier nicht in dem Sinne verstanden von „Ein Gespenst geht um“, sondern als Handeln, Behandeln, Menschen dabei unterstützen, sich aus dem Bann von NS-Täterschaft zu lösen.
Aus psychotherapeutischer Arbeit mit NS-Tätern habe ich nichts zu berichten, denn von ihnen hat nie jemand entsprechende Hilfe bei mir gesucht.
Doch mit einer Reihe von Nachkommen wurden Therapien möglich.
Folgende Punkte lassen sich daraus als besonders wichtig festhalten:
- Verleugnung muss erst einmal als solche erkannt werden – auf beiden Seiten, also bei „Behandelten“ wie bei „Behandlern“.
- Insbesondere muss erst einmal damit gerechnet werden, dass Täter und andere Tatbeteiligte weitergemacht haben nach 1945, nämlich dort, wo es gefahrlos ging, und das war besonders im „Schoß der Familie“ möglich.
- Es muss also keineswegs „verrückt“ sein, was sich für den naiven Blick zunächst so ausnimmt.
- In der Regel lässt es sich in einer Anamnese nicht erfragen, aber bereits da sollte der Gedanke wenigstens nicht völlig ausgeklammert sein, dass Familienangehörige der Hilfesuchenden zwischen 1933 und 1945 Verbrechen begangen haben könnten – und danach auch noch, einschließlich von Vertuschungsaktionen.
- In jeder psychischen Störung, jedem Symptom, jeder eigenartigen Handlungsweise, jedem destruktiven Muster können in geronnener, aber zunächst unkenntlicher Form Niederschläge von NS-Täterschaft enthalten sein.
- Unbewusste Loyalität mit den Vorfahren, wie sie allgemein menschlich ist, stellt im Kontext mit NS-Hintergründen einen äußerst machtvollen Faktor dar. (Näheres siehe dort)
- Deshalb ist mit verwickelten und langdauernden Therapieverläufen zu rechnen.
- Selbstreflexion auf der therapeutischen Seite ist hier nochmals wichtiger als sonst schon, und das zusätzlich in bezug auf eigene NS-Verwicklungen.
- Die Rolle von Frauen und Männern ist genau zu reflektieren einschließlich der Frage, warum letztere bei diesen Themen erst recht vor Therapie zurückscheuen.
- Familienideologien und -idyllen gilt es genau anzuschauen, auch auf therapeutischer Seite.
- Todesdrohungen waren etwas Normales im Nazi-Reich, doch auch noch nach 1945, damals in aller Öffentlichkeit, jetzt mehr im Verborgenen, eben besonders in den Familien.
- Verwirrtheit bei Klienten kann konkret davon herrühren, dass sich in ihrer Kindheitsumgebung Täter als „Opfer“ getarnt haben.
- Bei Verwirrungen angesichts von Schuldthemen ist besonders auf NS-Zusammenhänge zu achten.
- Wie sehr das grundlegende zwischenmenschliche Band durch die Nazi-Verbrechen zerstört wurde und wie sehr sich das bis zu Kindern und Kindeskindern auswirkt, gilt es in Therapien konkret wahrzunehmen.
- Besonders wichtig ist deshalb in der Therapie das Ringen um eine Grundsicherheit des gehalten Seins, des Vertrauens, der Verbundenheit, einer Verlässlichkeit, dass Konflikte ausgetragen werden können, ohne in Gnadenlosigkeit und letztlich existenzielle Bedrohung überzugehen.
- Ethische Fragen von Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Liebe, Gerechtigkeit können, wenn Nazi-Themen involviert sind, von großer Bedeutung in der Therapie sein.
- Psychotherapie in Deutschland ist problematisch, wenn nicht wenigstens grundsätzlich ein Bewusstsein besteht über die tiefe Verwicklung zwischen „Politischem“ und „Privatem“