Desorientierungen

Jürgen Müller-Hohagen

Dieser Bereich wird oft übersehen, jedenfalls wenn es nicht um Gedenkreden geht, sondern um konkreten Alltag. Wie hat das geistige Desaster des Nazi-Reichs weitergewirkt in seinen Anhängern, unter Umständen aber auch noch bei Gegnern und Verfolgten? Selbst noch bei Fernerstehenden? Und was bedeutete sein Zusammenbruch für die Volksgenossen?

Die Langzeitauswirkungen auf geistigem Gebiet sind wahrscheinlich noch schwerer abzuschätzen als die seelischen. Konnten Menschen, die andere umgebracht hatten im Krieg oder erst recht als Täter, wirklich zurückkehren zu „geistiger Normalität“? Musste aller „Neuaufbau“ nicht Tünche bleiben bei ihnen und unter Umständen noch bei ihren Nachkommen? Die Verfolgten, sofern sie überlebt hatten, was war mit ihrer geistigen Orientierung, nachdem ihnen die Zugehörigkeit zur Menschheit aberkannt worden war? Die Volksgenossen insgesamt, sie mochten zwar zurückkehren in den Schoß der Kirchen und zu den bürgerlichen Werten – aber was blieb von deren vorangegangener radikaler Umwertung? Wie ist bis heute Wahrheit infiltriert? Wahrhaftigkeit? Umgang mit Schuld? Nächstenliebe? Schutz des Lebens? Achtung Schwächerer, Behinderter? Und dies alles nicht allein auf der Ebene rechtsstaatlich überprüfbarer Gesetze, sondern auch noch in den Untergründen von Stammtischen, Familien und halbbewussten Ressentiments?

Wer war von dieser Desorientierung nicht betroffen? Wer kann sich heute auf der „sicheren Seite“ wähnen?