Kernaussagen

Dialog kann Trauma nicht „auslöschen“, wohl aber das Leben erträglicher machen und dem Miteinander neue Chancen eröffnen. Wir sind mehr auf Dialog angewiesen, als wir gegenwärtig leben. (S. 8)

Zentral für Dialog ist die Anerkennung der anderen als anders, als Andere. Das ist allerdings kein leichtes Unterfangen. Wir haben keinen „objektiven“ Zugang dorthin, sind vielmehr auf unser Einfühlen, unsere Empathie angewiesen. Diese aber kann trügerisch sein. Projektion, sich selbst der anderen Seite überzustülpen, ist eng verknüpft mit der hoch gepriesenen Empathie. Um dieser Gefahr nicht zu erliegen, ist es unerlässlich, sich selbst immer wieder zu befragen und sich auch kritisch anschauen zu lassen. (S. 179)

Es kann Dialog nicht geben ohne wenigstens eine Basis, die alle Seiten verbindet. Ohne solch ein Netz droht bei jeder Auseinandersetzung der Fall ins Bodenlose. Die Bedeutung einer fundamentalen Verbundenheit ist in unserer westlichen Welt lange Zeit unterschätzt worden. (…) Verbundenheit einerseits und das Anerkennen der anderen als Andere sind die beiden Hauptachsen von Dialog. (S. 180)

Psychisches Trauma ist das Leid der Ohnmächtigen. Das Trauma entsteht in dem Augenblick, wenn das Opfer von einer überwältigenden Macht hilflos gemacht wird. Ist diese Macht eine Naturgewalt, sprechen wir von einer Katastrophe. Üben andere Menschen diese Macht aus, sprechen wir von Gewalttaten. Traumatische Ereignisse schalten das soziale Netz aus, das dem Menschen gewöhnlich das Gefühl von Kontrolle, Zugehörigkeit zu einem Beziehungssystem und Sinn gibt. (Zusammenfassung von Aussagen aus Judith Hermans Buch Die Narben der Gewalt.) (S. 11)

Das Überwältigende einer traumatischen Erfahrung liegt oft in ihrem plötzlichen, völlig unerwarteten Auftreten. Hier handelt es sich um den „Kerntypus“ von Trauma. Dabei ist anschließend der Zusammenhang von Ereignis und seelisch-körperlichen Folgeerscheinungen am einfachsten herzustellen. Daneben gibt es aber auch viele traumatisierende Erfahrungen, die zwar ebenfalls auf belastende äußere Einwirkungen zurückgehen, doch diese waren als einzelne nicht von solchem Gewicht. Wohl aber summierten sie sich in ihrer Abfolge zum Trauma. (S. 12f)

Zunächst einmal kann direkt im Zusammenhang mit dem Erlebnis bzw. kurzfristig danach eine Psychotraumatische Belastungsreaktion auftreten. Dazu gehören etwa Ängste und Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen, Vermeidungsverhalten, Rückzugstendenzen, Leistungsstörungen. Dies mildert sich oft in der Folgezeit allmählich ab. Ist das jedoch nicht der Fall oder steigert es sich sogar noch, so ist ab einem Zeitraum von etwa vier Wochen an das Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung zu denken. Dazu gehören plötzlich auftretende Wiedererinnerungen (Flashbacks), halluzinationsartige Erlebnisse, Derealisations- und Depersonalisationszustände, Erinnerungsausfall bezüglich des traumatischen Ereignisses (Amnesie), Übererregbarkeit. (S. 17)

(Nicht das Ereignis als solches ist entscheidend dafür, ob es sich um ein Trauma handelt, sondern das Maß, in dem die betreffende Erfahrung nicht mehr oder nur noch mit einem „Notprogramm“ verarbeitet werden konnte. Der subjektive Faktor ist also entscheidend. Deshalb unterscheiden wir zwischen Trauma und „verstörenden Lebenserfahrungen“.) (Siehe S. 21f)

Hier wie auch in den vorhergehenden Beispielen zeigt sich ein enormes Spannungsfeld rund um Trauma. Viele Widersprüche und Unsicherheiten tauchen auf, wenn wir nicht mehr Ereignis und Trauma automatisch aneinanderkoppeln, vielmehr die jeweilige innere Verarbeitung mitberücksichtigen. (S. 26)

In diesem Buch geht es zentral um Trauma, das auf menschlicher Gewalt beruht. Aber nicht dessen Verursacher sind das Thema, sondern die Menschen, die das zu erleiden hatten. Gemeinhin werden diese als Opfer bezeichnet. Aber etwas stimmt nicht mit dieser Bezeichnung. Die deutsche Sprache ist hier auffällig arm. Da gilt dieses eine Wort für Opfer sexueller Gewalt, ebenso für sogenannte Verkehrsopfer, religiöse Tier- oder Menschenopferungen, es wird von einer Opferwoche gesprochen oder davon, sich für jemanden aufzuopfern, – und dann ohne eine veränderte Begrifflichkeit von Holocaust-Opfern. (S. 28)

Immer noch wird eher zu wenig gesehen, wie sehr (das NS-Reich) auf Lügenhaftigkeit basierte, die weit über sonstige Unehrlichkeit hinausging. Die zentralste und folgenreichste Lüge bestand darin, andere Menschen zu „Untermenschen“ zu erklären. Solche Lügenhaftigkeit stellt eine verborgene Struktur dar, ein Geflecht, von dem das individuelle wie kollektive Leben durchdrungen werden. Das führt sekundär zur Ausbildung größerer und kleinerer konkreter Lügen. Bestimmend aber bleibt das untergründige Geflecht. Deshalb sprechen wir von struktureller Lügenhaftigkeit. Uns stehen aus den Bereichen Familie, Arbeitswelt und Gesellschaft zahlreiche Beispiele vor Augen, in denen von der oberen Ebene aus (Eltern, Vorgesetzte, Amtsinhaber) eine Lügenwelt als Wahrheit verkauft wurde. Das kann traumatisierend und verstörend wirken oder bereits vorhandene Traumata noch vertiefen. Es ist in extremer Weise Verhinderung von Dialog. (S. 33)

Viele Verfolgtengruppen wurden nach 1945 weiterhin ausgegrenzt, in Deutschland West und Ost in etwas unterschiedlicher Weise, aber in beiden Staaten sehr ausgedehnt. (S. 46)

An den Stellen, wo traumatische Hintergründe besonders wirksam sind, verengt sich unser Bezug zu unserem jeweiligen Gegenüber dramatisch. Es ist wie ein Tunnelblick. Wir bemerken aber diese radikale Veränderung nicht, sehen die Ursachen vielmehr beim Gegenüber. Natürlich kann das auch bei verstörenden Lebenshintergründen der Fall sein, doch im Fall von Traumatisierungen ist das noch radikaler. Die andere Seite fühlt sich dann aus der Kommunikation hinausgeworfen, ohne jedoch einen plausiblen Grund zu erkennen. So etwas verwirrt. (…) Der Traumamodus ergreift die Beziehungen, zieht sie in seinen Bann. Auch das Gegenüber ist von einem Moment auf den anderen massiv verändert, ist nicht mehr „er oder sie selber“. (S. 66)

Wie können Menschen überhaupt auf den Gedanken kommen, bei ihnen liege ein Trauma vor? Das ist komplexer und widersprüchlicher, als es auf den ersten Blick erscheint. Beispielhaft stellt Ingeborg dies im Folgenden anhand eigener Lebenserfahrungen dar. (S. 68)

Um einige Möglichkeiten der Befreiung von solchen Lasten geht es im folgenden Kapitel über Psychotherapie im Zusammenhang mit Trauma. Der dabei unvermeidliche Blick auf Individuum und Familie darf aber nicht verdecken, wie sehr hier gesellschaftliche Hintergründe hineinwirken, von Kriegen und politischer Gewalt über institutionalisierte Gewalt, gesellschaftliche Ausgrenzung bis hin zur Ausbeutung in der Arbeitswelt und Traumatisierungen im Schulbereich. Nicht an allem sind Familien „allein schuld“. Aber sie bilden vielfach den Schauplatz. (S. 92)

Die Traumatisierungen sind endlos, und so lassen sich auch die Bemühungen um ihre Behandlung nicht mit einem „übersichtlichen Raster“ fassen. Gleichwohl gibt es darin (…) eine Richtung, und die haben wir mit dem Titel dieses Buches auszudrücken versucht: Dialog statt Trauma. (S. 108f)

Der grundsätzliche Konsens in unserem Land sieht ungefähr so aus, dass Schule, abgesehen von „bedauerlichen Einzelfällen“, nicht traumatisierend sein könne. (…) Ingeborg sieht das anders. Im Folgenden unternimmt es Ingeborg, anhand eigener, ganz konkreter Erfahrungen einige Problemfelder sichtbarer werden zu lassen, um gängige Schulpraxis auf mögliche traumatisierende Wirkungen abzuklopfen. Keineswegs geht es ihr darum, das enorme Engagement und den Ideenreichtum vieler Lehrkräfte an herkömmlichen Schulen zu negieren oder eine generelle Überlegenheit der von ihr gelebten Montessori-Pädagogik zu behaupten. Dass allerdings von hier aus seit Maria Montessoris bahnbrechenden Neuerungen viele Impulse für eine kindgerechtere Schule ausgehen und Ingeborg davon sehr überzeugt ist, soll nicht verschwiegen werden. (S. 110f)

(Zum Thema Schule folgende Unterkapitel, S. 110 – 122:)

Schule – traumafördernd?

Nach Alter sortiert

Zwischen Trauma und Solidarität

Schule – das macht sprachlos

Wenig Einfühlen

Ziffernnoten und Trauma

Die Macht der Fehler

Hausaufgaben – Anlass zu Dauerdramen

Lehrkräfte – ziemlich allein

Eltern müssen draußen bleiben

Beklemmungen

Etwas zugespitzt formuliert: In weiten Bereichen unserer Gesellschaft finden zwar Dialoge statt, nicht aber Selbstreflexion. (S. 144)

Bei der Ausübung zwischenmenschlicher Gewalt spielen Erfahrungen von zerschnittenem Dialog eine entscheidende Rolle. Anderen wird das zugefügt, was man selbst nicht aushalten konnte. (S. 187)

„Entgleisung des Dialogs“ ist eine passende Metapher. Sich Dialog als einfach gelingende Kommunikation vorzustellen, würde viele Fallstricke übersehen. Entgleisung ist seit unserer frühesten Lebenszeit eine stets drohende Möglichkeit. In der Folge kommt es zu offenen oder meist verdeckten Dramen der Verständigung. (S. 193)

Wie schon im Kapitel Schule und Trauma vorausgeschickt, ist Ingeborgs große Wertschätzung für die Montessori-Pädagogik nicht so misszuverstehen, als wollte sie die vielen Ansätze für eine zeitgerechte Schule missachten, die es auch im staatlichen System gibt. Immer wieder allerdings wundert sie sich doch sehr, dass in öffentlichen Debatten zwar ein großer Reformbedarf benannt wird, aber die oft schon jahrzehntelang etwa an Montessori-Schulen erfolgreich praktizierten Veränderungen nicht in den Blick kommen. Muss das Rad denn immer wieder neu erfunden werden? (S. 229)

(Ingeborg:) Nach meiner Erfahrung spüren Kinder und Jugendliche, ob Erwachsene sie manipulieren, befehligen, kontrollieren oder sie in ihrer Persönlichkeit achten. Im ersteren Fall weckt das Widerstand, Rebellion, im zweiten Fall eröffnet es Entwicklung, Kreativität, Vertrauen, Dialog. (S. 236)

Freie Dialoge bewegen sich in einem „intermediären Raum“, einem Zwischenraum. Das verläuft in drei oder vielleicht auch noch viel mehr Dimensionen. Wir unterscheiden ihn vom gebundenen Dialog, der nach dem Modell eines Uhrpendels sozusagen nur auf einer Linie abläuft. Auch dieser kann seinen Wert haben, nämlich wenn festgelegte Abläufe genau einzuhalten sind. Wir hüten uns vor übereilten Wertungen. Doch unser Herz schlägt für den freien Dialog – und dies erst recht, weil traumatisierende Gewalt es gerade auf ihn abgesehen hat.

Dialog und Raum, sie gehören zusammen. Dialogischer Raum ist in uns, ist zwischen uns und bildet überhaupt den Hintergrund als gesellschaftlicher Raum, der alles trägt und umfängt. (S. 263)

Hier liegt der Ausgangspunkt für eine Ethik von Verbundenheit, für eine Ethik „jenseits der Religion“, für eine Ethik im Zwischen von Religionen, Philosophien – und vor allem zwischen den ganz konkreten, den lebenden und leidenden Menschen. (S. 273)

Dialog ist eines der ganz großen Zukunftsthemen. Ihm kommt der gleiche Rang zu wie Klima, Umwelt, Zusammenhalt, Gerechtigkeit, Solidarität, Überwindung der verschiedensten Ausgrenzungen… Sie hängen untrennbar zusammen. Dialog durchdringt sie alle. (S. 284)