Rufe aus der Unterwelt

Jürgen Müller-Hohagen

Eine Frau von etwa fünfzig Jahren schrieb nach dem Lesen von Geschichte in uns: „Ich habe das Gefühl, ich laufe durch einen dichten Nebel, und ich erahne und erfühle manches, aber was es ist, weiß ich nicht (…) Ich weiß nur, dass ich eine panische Angst vor meinem Vater hatte, die mich völlig im Griff hatte (…) Ich habe immer wieder versucht, hinter sein Geheimnis zu kommen. Warum ist er so? Waren Kriegserlebnisse daran schuld? War er ein Opfer? War er ein Täter? (…) Warum ich die ‚Schwarze Schaf‘ Rolle übernehmen musste, ist mir nie klargeworden.“

Eine andere Stimme aus diesem Untergrund ungeklärter Nazi-Bezüge begann ihre Mitteilungen so:

„Bitte, darf ich Ihnen schreiben? Mein eigenes Geschreibsel habe ich jahrzehntelang verbrannt. Circa 20 Jahre lang hatte ich – an allem vorbeilügend – darin immer wieder von neuem meine Kinderzeit in einer Nazifamilie erzählt. Ich hatte dann vor 12 Jahren an die Buchautorin … geschrieben und erhielt als Antwort: Ich könne nur überleben, wenn ich endlich Ernst machen würde mit meinem ‚Buch‘ – und wenn ich zu diesem stehen würde. Dazu stehen? Wie macht man das? Und was werden sie mit mir machen, falls dazu Stehen Öffentlichwerden heißt – wo sie mir doch von klein auf prophezeiten, ich würde im Irrenhaus enden – und ’sorgen dafür würden sie!‘ Ich packte es dann, in wenigen Wochen ‚die Wahrheit‘ niederzuschreiben, meine Wahrheit – die die Familie als Wahnsinnsausbruch abgetan hätte – als endgültigen Beweis meines ‚wohlbekannten‘ Irreseins inmitten dieser angesehenen Familie.“

In einem Brief von jemand anders hieß es ähnlich: „Ich hatte es schon so viele Jahrzehnte ‚gewünscht‘, ohne danach handeln zu können – ohne mich überhaupt trauen zu können. Meiner ersten Therapeutin verdanke ich, dass ich überhaupt noch lebe. Sie war jahrelang die einzige Person, die mich stützte.“