Traute S. aus Elbing, Jahrgang 1929

Am Abend des 23.1.1945 schickten wir uns an, die letzte Nacht zu Hause (in Elbing) zu verbringen; es war beschlossen, am 24. mit den Schiffen des Wasserbauamtes, wo mein Vater tätig war, nach Danzig zu flüchten – das Gepäck war schon an Bord. Plötzlich großer Lärm auf der Ziesestrasse und Schüsse, Scherben unseres Kachelofens flogen uns um die Ohren, und wir suchten im Hof hinter den hoch aufgeschaufelten Schneewällen Deckung. Dort blieben wir ziemlich lange, denn einer der in Richtung Englisch-Brunnen rol­lenden Panzer war ca. 50 m vor unserem Haus abgeschossen worden und brannte aus, wobei immer wieder Munition explodierte. Später stellten wir fest, dass direkt vor dem Haus ein Treck überrollt worden war – die Wagen zertrümmert, die Pferde furchtbar zermalmt. Als wir dann, schon in der Frühe des 24., am Wasserbauamt ankamen, waren die Schiffe fort – die wachhabende Belegschaft war in der ersten Panik einfach abgefahren; ob das im Endeffekt gut oder schlecht für uns war, ist kaum zu beurteilen: einige der Schiffe liefen unterwegs auf Minen und sanken, wie wir später hörten. Eins der Schiffe war zurückgeblieben, es war nicht startklar, weil Pressluft (o.ä.) fehlte. Wir brachten eilig zurechtgemachtes zweites Gepäck an Bord, während mein Vater lossauste, das Fehlende zu besorgen – leider vergeblich. So gingen wir abends, weil schon bedrohlicher Beschuss eingesetzt hatte, ohne Gepäck in den kleinen Betriebsbunker. Am Morgen war dann auch dieses Schiff fort – über Nacht abgeschleppt nach Danzig! Ehe wir uns – mangels anderer Mög­lichkeiten – dann dazu entschlossen, uns bei ?20°C mit unserer 82-jährigen Großmutter zu Fuß auf den Weg zu machen (Vater war noch zum Volkssturm gezogen und musste sowieso bleiben), kamen schon die ersten Fußgänger zurück mit ihren erfrorenen Kindern auf den Schlitten und sagten: „Wir wollen lieber zu Hause sterben“.., waren die Brücken über den Elbingfluss kaputt, der Kessel zu, wir in der Falle. So etablierten wir uns mit anderen Betriebsangehöri­gen in dem kleinen, überfüllten Bunker, der zwar primitiv einge­richtet war, aber immerhin über einen Grundwasserschacht verfügte – ein unschätzbarer Vorteil, weil Wasser- und Stromversorgung im zunehmenden Beschuss schnell ausfielen. Hier überstanden wir den immer schwerer werdenden Beschuss mit allnächtlichem Trommelfeuer, einen Volltreffer in Kamin und Lüftungsschacht, einen Blindgänger, von dem wir nicht wussten, ob es nicht vielleicht doch ein Zeit­zünder war, und warteten voller Angst aufs Ende. Nach etwa 3 Wochen im Kessel brachen dann am 11.2. nach einem letzten Panzergefecht, das sich sozusagen über unseren Köpfen abspielte, unsere „Befreier“ über uns herein; wir waren ihre Kriegsbeute, und sie befreiten uns von Hab und Gut, von Freiheit und aller Menschenwürde und so manche auch gleich ganz von der Last des Daseins. Damit begann für die Zivilbevölkerung eine Schreckenszeit. Den schnell durch­ziehenden Kampftruppen ging es zunächst vor allem um Uhren und Schmuck; die in immer neuen Wellen Nachrückenden warfen die Men­schen immer wieder aus ihren Unterschlüpfen und Behausungen, plün­derten brutal und rücksichtslos, zerstörten, was sie nicht mit­nahmen; Betten, Polstermöbel wurden aufgeschlitzt, Schränke auf den Fußboden entleert, Vorräte darauf ausgekippt, so dass die Menschen praktisch sofort obdachlos und besitzlos wurden und immer wieder neu irgendwo unterkriechen mussten, ständig neu bedroht. Den furchtbarsten Preis zahlten die Frauen – sie waren „Kriegs­beute Nr. 1“ und völlig hilf- und wehrlos brutalsten Vergewalti­gungen ausgesetzt; es gab kein Entkommen, weder für alte Frauen noch für kleine Mädchen, und es passierte auch in aller Öffentlichkeit, auf der Strasse, vor den Augen der Kinder. Lt. Statistik (nach Reichling) sind allein 180.000 Frauen und Mädchen an den unmittelbaren Folgen von Massenvergewaltigungen zu Tode gekommen. Die Überlebenden dieser (nicht nur körperlichen) Torturen sind lebenslang „beschädigte Menschen“.

 Auch wir konnten in unserem Bunker nicht bleiben, mussten Nahrungs­mittel aus verlassenen Häusern besorgen, Tote begraben (wir beer­digten 12 deutsche Soldaten, von denen wir nur 3 identifizieren konnten), und beim Holzsammeln in eine irgendwo aufgelesene Wehr­machtstasche sagte dann ein Russe zu mir mit Hinweis auf die Tasche: „Du Spion! Kommandantur!“ Diese Begründung war beinahe rührend, sie konnten doch ohnehin ungestraft mit uns machen, was sie woll­ten! Jedenfalls wurden Vater (der dabei war) und ich auf der Kom­mandantur gegenüber vom Wasserbauamt kurz verhört und dann ge­trennt in den Keller gesteckt, wo auch schon andere saßen. Mein Einzelgemach enthielt ein Durcheinander von Kohlen, Glasscherben, Gerümpel, zwei große Kisten und zum Glück (der Hygiene wegen) eine halbgefüllte Aschentonne. Nach Einbruch der Dunkelheit verschwand mein Vater unbemerkt durchs kaputte Kellerfenster, um der Mutter zu sagen, wo wir waren, kam aber wieder zurück, weil er fürchtete, dass ich sonst die Flucht hätte büßen müssen. Die Nacht wurde mondklar und eisig, und ich rollte mich frierend auf einer Kiste zusammen und sah einer Schar Mäuse zu, die am Boden herumwimmelten. Spät in der Nacht kam mit grossem Getöse ein Pferde­wagen angefahren, es erhob sich Unruhe im Haus mit viel Hin und Her und Geschrei, und schließlich wurde auch ich (als Letzte) nach oben zum Verhör geholt. Die Szene war gespenstisch: viele Russen in einem völlig verräucherten, von trüber Funzel schwach beleuchtetem Raum, ein betrunkener Offizier, der beständig mit einer Pistole herumfuchtelte, und dann noch so ein Eiskalter, der mit tschechischem Dolmetscher verhörte. Sie hatten einen Kauf­mann gefangen, der uns schräg gegenüber einen Kolonialwarenladen nebst Kneipe hatte – ein alter, kranker Mann mit einem schlimmen Lungenemphysem. Der sollte sagen, wo er seinen Schnaps vergraben hatte; er sagte nichts und hatte sicher auch keinen, deshalb lag er zusammengeschlagen und nur noch mit einer Unterhose bekleidet in einer Ecke – ob er das überlebt hat, weiß ich nicht. Danach wurden alle Kellerinsassen ebenso vergeblich befragt und zusammen­geschlagen, und die letzten Prügel bezog fast noch der Posten, weil er es gewagt hatte, mir das Blut aus dem Gesicht zu wischen (zum Glück nur Platzwunden, die Zähne blieben fest). Schließlich saßen alle wieder im Keller, und die Herren fuhren geräuschvoll, aber immer noch ohne Schnaps, wieder davon. Am nächsten Tag wurde eine etwa vierzigjährige, von den Russen übel zugerichtete Frau zu mir gesperrt, und nach einer weiteren kalten Nacht auf Kisten (ohne jede Verpflegung) wurden wir zwei zu einer anderen Komman­dantur in der Horst-Wessel-Straße (ehem. Leichnamstraße) ge­bracht. In dem Haus (Besitzer Graetzel) waren schon alle ausgeräum­ten Zimmer vollgestopft mit Leidensgenossen, überwiegend Frauen und Mädchen, nur ein paar alte Männer und halbwüchsige Jungen darunter. Die meisten waren, wie ich, einfach auf der Straße aufgegriffen und mitgenommen worden, wobei gelegentlich auch Mütter ihre kleinen Kinder hilflos stehenlassen mussten. Erneutes nächt­liches Verhör, bei dem ein 12-jähriger Pole kaum verständlich dolmetschte. Es gab die üblichen Fragen nach BDM, ob Vater, Mutter, Großmutter in der Partei, wie viele Brunnen ich beim Einmarsch vergiftet hätte, an welcher Ecke ich mit dem Gewehr gestanden, wie oft fürs Winterhilfswerk gesammelt – eine ganze DIN-A-4- Seite Protokoll in russischer Sprache und kyrillischer Schrift, meine Unterschrift drunter – fertig! Mein Eingeständnis, im BDM gewesen zu sein, ersparte mir die Knute, die mit freundlichem Nachdruck auf dem Tisch lag; die „Verstockten“ mussten sich nackt auf den Boden legen und wurden so lange geprügelt, bis sie alles sagten, was die hören wollten. Natürlich bedienten sich die Sieger auch in anderer Weise nach Belieben – auch da gab es kein Erbarmen. – In ihren Reaktionen waren sie völlig unberechenbar: eine Groß­mutter kam mit ihrem 3-jährigen Enkelchen, damit das Kind Abschied von seiner gefangenen Mutter nehme – wurde erlaubt. Aber einer sehr alten, gebrechlichen Frau, die ihrer gefangenen Tochter etwas zu trinken bringen wollte, wurde die Kanne aus der Hand geschlagen und die Greisin davongeprügelt.

 Als das Haus überfüllt wurde, ließ man uns in Fünferreihen auf der Straße antreten, und dann wurden wir von berittenen, schlitz­äugigen, selbstverständlich bewaffneten Bewachern in Richtung Stadt davongetrieben. An der Einmündung Mattendorfstraße begegnete uns mein Vater, der von 2 Russen auch gerade zur Kommandantur Graetzel gebracht wurde; ich konnte ihm nur im Vorübergehen zu­rufen und winken, was aber den Russen heftig missfiel (mein Vater wurde damals übrigens von Graetzel wieder freigelassen, was ich aber nicht mehr erfuhr). Wir marschierten weiter mitten durch die Stadt mit Blick auf die gigantischen Trümmerberge der Altstadt in Richtung Preussisch-Holland (über Plohnen). Unterwegs begegneten uns zahlreiche andere Trupps wie der unsrige; es sah aus, als ob halb Ostpreussen unterwegs war! Die Straßen waren gesäumt von weggeworfenem, durchwühltem Gepäck, zertrümmerten Treckwagen, Kriegstrümmern aller Art, viel totes Vieh, auch tote Menschen. Wir übernachteten in verlassenen Scheunen, wieder den Übergriffen unserer Bewacher ausgesetzt, und findige Mitmenschen kochten in einer grossen Zinkwanne auf offenem Feuer Kartoffeln aus einer Miete ab, erste Nahrung seit Tagen. Nach 2 Tagen in Preussisch-Holland ging es auf offenem LKW weiter nach Bartenstein. Dort saßen wir im Zuchthaus, immer 20 in einer Einzelzelle; kein Platz zum Liegen – in unserer Mitte ein überfließender Aborteimer (viele von uns hatten Durchfall). Am Karsamstag-Abend langten wir (nach weiterem LKW-Transport in drangvoller Enge und bei eisiger Kälte) im Gefängnis Insterburg an. Schon bei Dunkelheit wurde der ganze Transport, der inzwischen kräftig ange­wachsen war, in einen bereits vollbelegten Saal getrieben. Men­schen traten auf Menschen, und wir, die Letzten, bekamen einfach die Tür ins Kreuz und wurden auch noch hineingepresst. So stan­den wir eingekeilt die ganze Osternacht, ohne uns rühren zu kön­nen. Ich stand an die Seitenwand gedrückt, und durch ein Mauer­loch zitierte vom Nebenraum aus ein Mann (offenbar Zeuge Jehovas und ebenso offenbar nicht mehr ganz bei Troste) pausenlos Bibelstellen – ellenlange alttestamentliche Geschlechtsregister – es war zum Verrücktwerden! Am Ostersonntag wurden die, die wir im Saal vorgefunden hatten, abtransportiert, und wir hatten einen ganzen Tag lang Gelegenheit, langzuliegen, umherzugehen und die vielen, vielen Namen, Adressen und Nachrichten unserer Vorgänger zu studieren, mit denen die weissgekalkten Wände bis hoch hinauf bedeckt waren; irgendwer hatte noch einen kostbaren Bleistift­stummel, der den Filzungen bisher entgangen war, und so standen unsere Namen nachher da auch. Dann kamen so viele Neuzugänge, dass wir schliesslich mehr als 400 in diesem Saal waren und nur noch mit angezogenen Beinen hocken konnten. Zuerst machten wir Schichtbetrieb: die einen standen und die anderen durften derweil liegen; aber bald hatte niemand mehr die Kraft, lange genug zu stehen, damit das Liegen auch wirklich etwas nützte – so hockten wir schließlich alle wieder aneinandergelehnt. Zweimal täglich brüllten die Russen „Abort“ und trieben uns „dahin“ – das war, je nach Lage, freie Landschaft oder hier in Insterburg (ebenfalls im Freien) lange, schmale Gruben, über die in kleinen Abständen Bretter zum Darauftreten gelegt waren. Hier durften wir uns er­leichtern – natürlich unter strenger Aufsicht unserer feixenden Bewacher, und man brauchte keine Sprachkenntnisse, um herauszu­hören, welchen Inhalts ihre Bemerkungen waren. All dies unter viel „dawai – schnell, schnell ? Geschrei?. An Verpflegung gab es täglich 2 Scheiben Hartbrot, ein bisschen Peluschkenbrühe und etwas Wasser – beides musste man gleich, wenn man kein Gefäß hatte, aus dem Schöpflöffel heruntertrinken. Es kam vor, dass die hinten in den Ecken Sitzenden nichts mehr abbekamen. So verbrachten wir 10 Tage, in denen wir immer schlapper und lahmer wurden, und am letzten Tag gab es weder Abort noch sonstwas. Am nächsten Morgen wurden wir in endloser Kolonne zum Güterbahn­hof getrieben (bis dort lagen schon russische Breitspur-Gleise); nach der Klausur am Vortage mussten wir alle auf diesem Wege in die Hocke und trugen dann unsere Hinterlassenschaften an unseren Schuhen mit in die Waggons.

Spätere Informationen besagen:

Transportstärke insgesamt 2000 Personen

davon    697 Männer

1303 Frauen und Mädchen

davon ca. 1/3 minderjährig

verladen am 9.4.1945

(Daten aus: Iwan Tschuchin „Internierte Jugend?)

In den Monaten Februar/März/April 1945 gingen von Insterburg 22 Transporte mit insgesamt 47000 Personen in die Sowjet-Union (die meisten nach Sibirien).

Im gleichen Zeitraum gingen von 24 weiteren Verlade­bahnhöfen im Raum der besetzten deutschen Ostprovin­zen und Polens weitere 84 registrierte Transporte in die Sowjet-Union ab.

(Aus: „Verschleppt ans Ende der Welt“ von Freya Klier Ullstein-Verlag 1996, ISBN 3-550-07094-2 gebundene Ausgabe, Deckel-Innendruck)

In meinem Waggon waren wir 56 Frauen und Mädchen – wieder nur Platz zum Hocken (ein eiserner Ofen in der Mitte war mangels Brennmaterial und Platz nicht heizbar). Ich geriet leider in eine Ecke, wo man platzmäßig noch extra benachteiligt ist. Da die Waggons von außen verriegelt wurden und wir niemals herausdurften (außer einmal in Leningrad, wo die Toten herausgenommen und wir wieder einmal gezählt wurden), hatten wir den „Abort“ drin und leider auch in meiner Nähe: ein Zinkeimer, und daneben aus 3 rohen Brettern gezimmert eine Abflussrinne, die durch ein Loch in der Waggonwand schräg nach außen führte. Die hoch liegenden kleinen Fenster waren vernagelt, so dass innen nur Dämmerlicht herrschte. Das Zurollen des großen Tores und das Einrasten des schweren Eisenriegels gehört (wie auch das Zufallen der innen drückerlosen Zellentür in Bartenstein) zu den unvergesslichen Geräuschen aus jener Zeit. Bei jedem Halt tobten die Russen mit viel Gepolter über die Waggondächer und donnerten von außen gegen die Wände – vermutlich um zu kontrollieren, ob auch niemand einen Flucht­versuch machte!

Verpflegung unterwegs: täglich 2 Scheiben Hartbrot und ca. 2 Tassen Wasser, am ersten Tag zusätzlich ein Stückchen unreifen, sehr salzigen Käse. Bald war der Durst so übermächtig, dass wir den Hunger nicht mehr spürten. Bei jedem Halt hämmerten wir in allen Waggons von innen gegen die Wände und schrieen: „Woda, woda – Wasser, Wasser“, was aber so gut wie nie etwas nützte. Die Fahrt ging über Kowno, Wilna, Dünaburg, Leningrad nach Petrosawodsk/Karelien; hier wurde der Transport geteilt – 1000 Personen, darunter alle Männer, fuhren noch weiter nach Norden auf der Murman-Strecke nach Wirandosero (NKWD-Lager 517, Abteilung 1). Der Rest wurde nördlich von Petrosawodsk nach mehr als einer Woche Fahrt auf freier Strecke mitten im Wald ausgeladen. Hier war noch strenger Winter – wir standen im tiefen Schnee, nach der wochen­langen Dunkelheit im Waggon fast blind in der gleißenden Hellig­keit der besonnten Schneelandschaft, und nach den Strapazen des wochenlangen Transportes, von Hunger, Durst und den Folgen der vorangegangenen Misshandlungen völlig am Ende aller Kräfte. Manche blieben einfach im Schnee liegen, wurden aber (entgegen unseren Befürchtungen) nicht erschossen, sondern später ins Lager geholt. Wir anderen stolperten, abermals unter strenger Bewachung, durch knietief verschneiten Wald und in schneidendem Ostwind über eine riesige, flache Lichtung, die sich später als zugefrorener See entpuppte. An ihrem jenseitigen Rand erwartete uns ein Lager: ein aus dichtem Wald herausgehauener Fleck mit Blockhäusern aus groben Bohlen, rundherum übermannshoher Stachel­draht, an den Ecken Wachttürme, mit MG bestückt – Endstation für 1000 Frauen und Mädchen im Alter zwischen 12 und ca. 60 Jahren. NKWD-Lager 517, Abteilung 2, Padosero, am See Nishnoje Padosero.

 Ich hatte Glück und geriet in eine Baracke mit kleineren Räumen (nebenan waren 400 in einem Raum!). Ein gemauerter Herd, ein roher Tisch, 16 doppelstöckige Holzpritschen (kein Strom, kein Wasser im Lager!). Aber unsere größte Seligkeit (denn alles ist relativ): jede von uns bekam eine Pritsche ganz für sich allein – rohe, rissige Bretter ohne was drauf, aber wir konnten uns endlich ausstrecken. Welche Wohltat! Das Glück war allerdings nur von kurzer Dauer: als wir aus dem ersten Erschöpfungsschlaf erwachten, fanden wir uns von unzähligen Wanzenstichen vollkommen verschwollen und unkenntlich! Gegen diese Plage gab es kein Mittel – man hätte das Lager abbrennen müssen. Dabei fanden wir uns eigentlich schon genug geschlagen mit Kopf- und Kleiderläusen, die sich während des Transportes schnell ausgebreitet hatten. – 2 Tage lang kümmerte sich niemand um uns; wir benutzten sie zum Langliegen und schmol­zen unentwegt Schnee in einem Wehrmachtskochgeschirr (kostbarer Besitz einer Leidensgenossin), um uns endlich sattzutrinken.

 Erste Arbeit: die unvorstellbaren Dreckhaufen unserer Vorgänger wegräumen, um die Aborte benutzbar zu machen. Zum Glück war alles hart gefroren, wir mussten mit Äxten dran. Es war schliesslich noch tiefer Winter so nah am Polarkreis (am 1. Mai fuhren die Russen noch mit Pferdeschlitten übern See). Die vier- bis zwölf­sitzigen, vor denen man Schlange stand, wurden schnell zur Nach­richtenzentrale – Umschlagplatz unzähliger aus Wunsch und Hoffnung geborener Parolen und Gerüchte, die sich sämtlich um Heimkehrtermine drehten und nie stimmten; je eisiger der Ostwind, desto schneller die Verbreitung!

 Von Hygiene war natürlich keine Rede; der einzige Brunnen war fast pausenlos für die Küche in Betrieb – wenn nicht, wurde der Schöpf­eimer weggenommen, weil wir ihn sonst geklaut hätten. Der Brunnen gab übrigens nicht genug her, so dass zusätzlich mit einer Holz­tonne auf Rädern (+ Panjepferdchen) Wasser aus einem nahen Fluss geholt werden musste. Der See lag ausserhalb des Stacheldrahtes und war für uns nicht erreichbar. Blieb der Schnee, aber Mitte Mai schmolz auch der. Das Badehaus des Lagers lag am See, also auch außerhalb; da sind wir in 4 Monaten 2x drangekommen. Das Waschen (Jede bekam ein Holztröglein und beliebig warmes Wasser) war herrlich und eine unendliche Wohltat; aber an der Schwelle zum Paradies mussten wir (nackt) an bewaffnete Posten unsere sämt­lichen Kleider abliefern. Die kamen gebündelt in die Entlausung, die leider ihren Zweck verfehlte und nur immer zu gerechter Neu­verteilung der Läuse führte. Dafür kamen aber die seit Monaten Tag und Nacht getragenen und nie gewaschenen Sachen so unerträg­lich stinkend und ekelhaft wieder zurück, dass man sich trotz aller Abhärtung in dieser Richtung davor schüttelte und fast lie­ber auf das Waschen verzichtet hätte (Traum-Vision: eine Bade­wanne mit klarem, warmem Wasser ganz für sich allein, ein Stück Friedensseife, ein lavendelduftendes Nachthemd und ein weißbe­zogenes Bett…) Unsere private Entlausung war wirksamer: jeden Morgen und jeden Abend jedes Kleidungsstück bis in die letzte Naht nachsehen, auch die Köpfe gegenseitig. Und diejenigen, die das – aus welchen Gründen auch immer – vernachlässigten, sorgten unentwegt für Nachschub an Überläufern. Dazu und zu den schon er­wähnten Wanzenheeren kam in den kurzen Sommermonaten noch eine ganz unvorstellbare Mückenplage, gegen die wir ebenfalls völlig hilflos waren; sie stachen trotz Vermummung durch alles durch.

Die Verpflegung: täglich 300 g sehr feuchtes Brot, vor und nach der Arbeit je etwa 2 Esslöffel Kascha (ein Brei aus Hirse oder Graupen, immer wochenlang dasselbe und nie gar), etwa 1/2 l Wassersuppe, in der ein paar Hirsekörner oder einsame schwarze Erbsen schwammen, manchmal gab es außerdem 2 Stückchen Würfel­zucker. Einmal – es war irgendeine Kommission im Lager zur Inspek­tion – gab es eine richtige dickliche Suppe und reichlich gut aus­gequollenen Kascha, der mit F E T T übergossen war!! Natürlich wurde das gesamte Lager einmütig krank von solcher Völlerei, so dass man schon am nächsten Tage (die Kommission war wieder weg) zu unser aller Wohl wieder zur altbewährten Diät zurückkehren musste und der gewohnte Hunger wieder regierte. (Traum-Vision: sich einmal an trockenen Pellkartoffeln sattessen dürfen….)

Meine Ausrüstung: Garnitur Unterwäsche, Waschbluse, kurzärmeliger Pullover mit Strickjacke drüber, kurze Socken, alte Pimpfenskihose, schon brüchig und geflickt, kriegsmüde Schuhe, die schon beim ersten Waldgang einen Absatz verloren, so dass ich praktisch rechts barfuß ging in Schnee und Matsch und Sumpf. Als Ersatz für den abhanden gekommenen Wintermantel einen blauen Schlosseranzug obendrüber, den ich irgendwo aufgelesen hatte. Um den Kopf den verflossenen BDM-Schlips = Dreiecktuch aus dünnem Baumwoll­stoff, keine Handschuhe, kein Schal – perfekt für Waldarbeit bei -20 Grad. So war ich aufgegriffen worden auf der Strasse, und den meisten von uns (es gab wenige Ausnahmen) ging es nicht besser. Das heißt: wir trugen diese Sachen buchstäblich Tag und Nacht (denn die Bretterpritschen waren kahl), und wenn wir nass von der Arbeit kamen, mussten wir nachts so damit auf den Pritschen liegen und waren manchmal morgens noch nicht wieder trocken. Bei solcher Beanspruchung und Null Pflege geriet unsere Kleidung sehr schnell in einen desolaten Zustand.

Die Arbeit: Waldarbeit in ihrer Urform, denn das Lager befand sich in den karelischen Ausläufern der Taiga (wir hatten damals nur eine sehr ungenaue Vorstellung von unserem Standort). Die Arbeitsfähigen wurden in verschiedene Kolonnen eingeteilt und von bewaffneten Bewachern zum Arbeitsplatz geführt. Einige Brigaden „Henneckes“ gingen quasi im Akkord Bäume fällen und bekamen dafür etwas Zusatzverpflegung. Andere mussten an der Bahnstrecke schon geschlagenes Holz in Waggons verladen – nur mit Muskelkraft. Eine andere Gruppe wurde zum Kalkbrennen abkommandiert. Ich arbeitete zunächst im „Strassenbau“, d.h. in den wilden Wald musste eine Schneise geschlagen, die Bäume gefällt und auch die Stubben gerodet werden, woran wir oft verzweifelten mit unseren kaum noch vorhandenen Kräften; danach planieren und Knüppeldamm legen, weil der endlich aufgetaute Boden sumpfig war. Handwerkszeug zu all diesem: nur lange Schleppsägen und Äxte, alles alt und stumpf und schartig. Der gefürchtetste Arbeitsplatz lag sehr weit entfernt vom Lager an einem kleinen Fluss, und schon der Weg dahin, streckenweise über Knüppeldamm, ging schier über unsere Kräfte. Dort gab es un­übersehbare Holzlager, offenbar von unseren Lagervorgängern an­gelegt, schön in Kloben gestapelt und fest ineinander vereist. Die mussten wir ganz ohne Werkzeug mit bloßen Händen auseinanderklauben, zum Ufer tragen und in die Strömung werfen, auf dass sie in den Onega-See schwimmen sollten. Als ermunternde Zugabe dazu Schneeregen und ein fremder Aufseher, der hoch zu Ross herumritt, mit der Reitpeitsche herumfuchtelte und uns mit „dawai, dawai“ unablässig antrieb; wir liebten ihn sehr! Später wurden wir aufs andere Ufer befohlen – Balanceakt über einen glitschigen, teil­weise überspülten Baumstamm. Unser Peiniger folgte uns, notgedrungen zu Fuß – und fiel ins Wasser bis an den Hals! Selten damals hat uns etwas so tief befriedigt wie der Anblick dieses fluchenden Schinders in seiner triefenden Watteuniform bei 0 Grad. Für diesen Tag jedenfalls fühlten wir uns gerächt – auch wenn nachher im Lager kaum noch einer vor Erschöpfung in der Lage war, noch die Wassersuppe zu holen.

Später habe ich für selbige Suppe beim Wasserdienst mitgesorgt: das Wasser aus dem Brunnen eimerweise heraufgekurbelt, in deutschen Molkereikannen 50 m übern Platz eine Treppe hoch in die Küche ge­schleppt, hochgewuchtet zu den großen, eingemauerten Eisenkesseln mit Feuerung darunter – Knochenarbeit für verhungerte und entkräf­tete Sechzehnjährige.

Einige Wochen nach unserer Ankunft kam eine Gruppe von deutschen Kriegsgefangenen ins Lager, die noch in recht guter Verfassung waren. Sie wurden teils als Dolmetscher bei den Verhören einge­setzt und teils als Handwerker, die aus dem allein verfügbaren Rohstoff Holz Gebrauchsgegenstände fertigen mussten: Holzeimer, mehr Holztröglein für die Banja, mehr Holzlöffel für die Wasser­suppe (der meinige, mit Monogramm eingeritzt, liegt heute im Regal neben Reiseandenken anderer Art). Und wenn es kein Sägewerk gibt, das die Bretter für all dies liefert, legt man einen Baumstamm auf zwei mannshohe Böcke, stellt unten und oben je einen Gefangenen mit gemeinsamer Schleppsäge hin – auf, ab, auf, ab – fertig ist das Sägewerk.

Der Tagesablauf war wohl in allen Lagern ähnlich. Wenn morgens der „Wecker vom Dienst“ an die rostige Eisenbahn­schiene gehämmert hatte, ereignete sich das Wichtigste vom Tage: es wurde Brot geholt, das portionsweise zurechtgeschnitten ausge­geben und von Vertrauensleuten in einer Decke (rarer Besitz von wenigen) getragen wurde, in der noch eben jemand geschlafen hatte. Ich habe immer die bewundert, die es schafften, das Brot nicht gleich ganz aufzuessen, sondern sich noch ein Stückchen für abends aufzuheben! Weil man in Kleidern schlief und die Morgentoilette mangels Möglichkeit sowieso ausfiel, ging man sozusagen gleich von der Pritsche weg Wassersuppe und Kascha essen. Danach wurde in Fünferreihen angetreten; erst vor der Baracke, da wurden die Leichtkranken aussortiert, der Rest gezählt, Abmarsch bis zum Lagertor, wieder zählen – Abmarsch zur Arbeit. (Auf dem Weg zur Arbeitsstelle und zurück bestanden manche unserer Bewacher uner­bittlich auf Gesang, egal, in welchem Zustand wir uns befanden. Vielleicht haben sie das, womit wir – hungrig und erschöpft – unsere Wut und Verzweiflung herausschrieen, als fröhliche Marsch­musik gedeutet („…es zittern die morschen Knochen…“). Abends nach der Arbeit standen wir oft lange vor dem Lagertor und wurden unentwegt gezählt – so lange, bis sie sich einig waren, dass weder eine fehlte noch eine zuviel war. Erst dann durften wir zur Wassersuppe. Aber nach dem Essen wurde wieder angetreten, und meist ließen sie uns endlos lange stehen, ehe sie überhaupt kamen – egal, was für Wetter war; und dann wurde wieder gezählt! Offensichtlich eine extrem schwierige und nur mit großem Zeit­aufwand zu bewältigende Aufgabe! Erst nach dieser alltäglichen Prozedur konnte man es wagen, sich zum „Lausen“ auszuziehen.

Ab und zu war ein Sonntag ganz arbeitsfrei; dann gab es gewöhnlich einen Generalappell, der meist fast den ganzen Tag dauerte. Das kann man mit einer Negativ-Buchführung vergleichen: alle wurden namentlich aufgerufen, und die sich nicht meldeten, lagen ent­weder totkrank im Revier oder waren in der Zwischenzeit gestorben.

Die Todesrate war sehr hoch. Lt. späteren Informationen waren bis zur Auflösung dieses Lagers im Spätherbst von den 2000 in Insterburg verladenen Menschen bereits mehr als 600 gestorben. Sie starben elend an Typhus, Ruhr und Diphterie, an Geschlechts­krankheiten, Fehlgeburten, Hunger, Entkräftung und Verzweiflung, und auch die, die noch „ja“ sagen konnten, waren so ganz viel nicht mehr wert. Skorbut breitete sich aus, und infolge des Hungers hatte ich, wie die meisten, unförmig von Wasser aufgeschwollene Füße und tiefe, eiternde Geschwüre hauptsächlich an den Beinen, die uns besonders beim langen Stehen während der endlosen Zähl­appelle sehr peinigten; man musste unentwegt von einem Fuß auf den anderen treten, um das überhaupt auszuhalten. Dass sich zwi­schendurch zwei lebensmüde Backenzähne unter idiotischen Schmerzen verabschiedeten, war zwar nicht lebensgefährlich, aber doch ge­wissermaßen lästig. Bedrohlicher war ein ruhrähnlicher Anfall, den ich mit reichlich Holzkohle aus dem Herdfeuer bekämpfte und so gerade noch an dem gefürchteten Revier vorbeikam. Als arbeitsunfähig wurden nur die anerkannt, die schon halbtot im Revier lagen und dieses nur in sehr seltenen Fällen lebend wieder verlassen konnten. Die Leichtkranken wurden vom russischen Arzt, den man nach der Arbeit in der Ambulanz aufsuchen konnte, für jeweils einen Tag von der Waldarbeit befreit – sie wurden nach dem Ausmarsch der Brigaden aus den Baracken geholt und mussten Holz hacken für Küche und Bäckerei, Gräber graben, Klötzchen sägen und hacken für LKW mit Generatorgas-Antrieb und ähnliche leichte(!) Arbeit tun. Der Arzt war übrigens ein guter Mensch, durfte aber nicht, wie er gerne wollte und hatte so gut wie gar keine Hilfsmittel und Medikamente. Für kurze Zeit war ein deutscher Militärarzt (auch Gefangener) im Lager, und wir wurden alle gegen Typhus geimpft, worauf viele mit Fieber rea­gierten.

Noch ehe wir im Lager so richtig zu uns gekommen waren, tauchten dann auch die wohlbekannten, blaubebänderten Mützen des NKWD auf, allgemeine Nervosität verbreitend, und die systematischen Verhöre gingen los; die Opfer des Tages wurden beim Morgenappell aussortiert, und da war keine, die nicht an diesem Tage viel lieber in den Wald zur Arbeit gegangen wäre! Es gab – nach angst­vollem Warten – immer wieder dieselben unsinnigen Fragen; sogar mein Protokoll aus Elbing war da, was mich sehr erstaunte, denn nach dem chaotischen Transportweg hatte ich so viel Ordnung nicht erwartet. Was all die Verhöre, die übrigens ohne Gewaltanwendung geführt wurden, im Endeffekt für die Einzelnen für Konsequenzen gehabt haben, kann ich nicht beurteilen. Mich hielt man offenbar trotz BDM wohl für harmlos.

Was wir damals nicht wussten: das NKWD-Lager 517 war ein sogenanntes Filtrier-Lager, in dem lt. Stalin-Befehl 00101 v. 22.2.1945 deutsche Zivilisten aus den eroberten deutschen Provinzen auf ihre Mitgliedschaft zu verschiedenen feindlichen Organisationen überprüft werden sollten (lt. Iwan Tschuchin: „internierte Jugend“).

Im Juli fand eine große allgemeine Musterung durch eine Ärzte­-Kommission statt, um die Arbeitstauglichkeit zu überprüfen. Danach wurden die als arbeitsfähig Eingestuften in ein anderes Lager nach Medveshegorsk abtransportiert, um an der Wiederherstellung des kriegszerstörten Stalin-Kanals mitzuarbeiten. Nach Fertig­stellung wurden sie ins Lager Solikamsk am Ural verlegt, wo sie in den großen Industriekombinaten und z.T. auch unter Tage Schwerstarbeit verrichten mussten. Wie viele aus dem ursprüng­lichen Transport in der Zeit noch umgekommen sind, ist unbekannt. Manche mussten bis zu 5 Jahre Zwangsarbeit leisten, ehe sie zurück­kehren durften.

Der zurückbleibende „Schrott“ (= Kranke, Arbeitsunfähige, Minder­jährige vom Jahrgang 1929 und jünger, schwangere Frauen), ergänzt durch den ebenso jämmerlichen Rest aus der Lagerabteilung 1, blieb im Lager, arbeitete weiter und wurde Ende August sozusagen von der Säge weg zum Abtransport befohlen. Nur die Schwerkranken blieben zurück, dazu einiges Lazarettpersonal, soweit das von uns überschaubar war. Vor dem Verladen wurden wir, wahrscheinlich des besseren Eindrucks wegen, mit Sachen aus dem Magazin ausstaf­fiert (die Toten wurden praktisch nackt auf einem Karren in den Wald gefahren und dort vom Totengräberkommando ohne jedes Zeremo­niell in Massengräbern beerdigt, ihre Kleidung im Magazin gesam­melt). Ich erbte einen viel zu großen Mantel und, als russische Zugabe, klobige Soldatenschuhe von ungleicher Größe, alt und abgetragen und ohne Schnürsenkel. Unsere 3 Waggons wurden in Petrosawodsk einem großen Heimkehrertransport angehängt. Die Waggons blieben diesmal offen und hatten Holzpritschen, auf denen wir wie in Regalen liegen konnten, und weder Aborteimer noch Abflussrinne, was bei langen Fahrstrecken problematisch wurde; bei jedem Halt wurde dann der Bahndamm gedüngt – Männlein und Weiblein durchein­ander und gleich dicht beim Zug aus lauter Angst, dass er womög­lich gleich abfahren könnte. Wir wurden auch zum ersten Mal wie­der satt – es gab zwar nur wieder die üblichen zwei Scheiben Hart­brot, aber genügend Graupenbrei mit Stockfisch (köstlich!). Trotz dieser geradezu luxuriösen Umstände hatten wir aber bei jedem Halt Angst: es wurden immer mal wieder welche aus dem Transport heraus­geholt. Und eine nervenkranke Frau ließ uns nicht zur Ruhe kom­men: sie drohte, uns alle umzubringen, wenn wir schliefen, wes­halb wir Wachen einteilten, und sie wollte immer gerade dann aus­steigen, wenn der Zug fuhr. Sie war genau so abgemagert und ent­kräftet wie wir, aber wir hatten zu Viert Mühe, sie zu bändigen.

So fuhren wir 3 Wochen lang – via Leningrad, Witebsk, Minsk, Baranowici, Brest-Litowsk (hier umladen auf europäische Normal­spur), querten südlich von Warschau die wilde Weichsel im Schnecken­tempo auf einer ungeheuer hohen, schmalen, wackeligen hölzernen Notbrücke, dann weiter über Radom, Lodz, Posen nach Frankfurt/Oder. Wir kamen vom Rande der Welt, unberührt von jedem Weltgeschehen, und hier, als wir uns fast schon „zu Hause“ glaubten, traf uns wie ein Schlag die Mitteilung, dass dies „zu Hause“ nun polnisch sei, alle Deutschen ausgesiedelt seien und wir auch nicht mehr dort hin dürften. Und für diejenigen, die im Westen keine Anlaufadresse hatten (was für fast alle Zivilverschleppten zutraf), gäbe es ein Auffanglager in Trebbin südlich von Berlin. Dann gab es einen unleserlichen Zettel mit Stempel als Entlassungsschein (Wortlaut etwa: …als genesen entlassen…), 1/3 Brot, 1/7 Pfund Margarine, eine Handvoll Zucker, mit Salz gemischt sowie 2 Trockenfische als Marschverpflegung – und wir waren frei, zu gehen, wohin es uns beliebte (nur eben nicht nach Hause!). Also gen Westen mit den Massen der Heimkehrer, die täglich in F./0. entlassen wurden. Bis Berlin/Schles. Bahnhof teils zu Fuß, teils per Güterwagen, auf Trittbrettern, Puffern, Dächern – dann trennte ich mich von den Lagergenossen, um Tante Grete, Cousine meiner Mutter, aufzu­suchen, deren Adresse ich noch auswendig wusste. Mit einem Berliner Soldaten, der ganz in ihrer Nähe wohnte und hoffte, seine Familie dort noch vorzufinden, marschierte ich viele Stunden durch die endlose Trümmerwüste Berlin (eine Leistung in den Schuhen) bis zum Potsdamer Platz und fand meine Tante tatsächlich in ihrer zerschossenen, geplünderten, aber immerhin noch vorhandenen Wohnung. Von den Meinigen wusste sie nichts. Nun gab es zwar keine Bade­wanne, aber ein ausgiebig zelebriertes Waschfest. Das erträumte Nachthemd – ein wunderbares Wohlgefühl! Nur das weißbezogene Bett, geradezu mit Andacht in Besitz genommen, war wohl zu viel des Guten: viel zu weich und viel zu warm für die brettergewohnten Knochen, weshalb mich die liebe Tante leicht entsetzt am näch­sten Morgen auf dem Bettvorleger schlafend fand. Die Kartoffel­orgie fiel natürlich mangels Masse auch aus. Weil ich keinen Zuzug nach Berlin bekam (absolute Sperre wegen katastrophaler Versor­gungslage) und schon einer allein von einer Lebensmittelkarte kaum überleben konnte, ging ich dann doch nach Trebbin, so gut wie möglich restauriert und bereichert um einen Rock, den mir meine Tante aus irgendetwas schnell genäht hatte.

In Trebbin gab es dann gar kein Lager, sondern nur (wie damals zur Zeit der großen Völkerwanderung in fast jedem Ort) in einer als Lazarett genutzten Schule zwei Räume mit Strohsäcken oder ausgedienten Luftschutzbetten für die täglich „Durchreisenden“ – Obdachlosen-Schlafstellen, würde man heute sagen. Hier fand ich einige Lagergenossen wieder, und da wir nicht weiter wussten, blieben wir erstmal. Wir mussten uns täglich im Stadthaus melden und bekamen dann einen Gutschein für 200 Gramm Brot und einen Teller Suppe (meist Mohrrüben in Wasser gekocht pur); sehr willkommen waren wir verständlicherweise nicht, weil jeder Esser mehr die ohnehin katastrophale Ernährungslage noch weiter verschlech­terte. Und von irgendeiner Fürsorge oder Betreuung für die da gestrandeten heimat- und obdachlosen Minderjährigen konnte gar keine Rede sein! Wir drückten uns ansonsten so herum und durften manch­mal für das Lazarett Holz hacken – eine sehr begehrte und nach unse­rer Vorbildung mit Sachkenntnis ausgeführte Arbeit, die uns jedes Mal einen zusätzlichen Teller Suppe einbrachte. Als die Schule wieder Schule wurde und das Lazarett in ein ehemaliges Arbeits­dienst-Barackenlager umzog, wurden wir als Hilfskräfte mit täglicher Kündigung engagiert; wir waren zwei ältere Frauen um die 50 und vier Mädchen unter 18, eine fünfte musste wegen offener Tb in eine Heilstätte gebracht werden. So hatten wir fürs erste eine Daseins­berechtigung auf Widerruf und hausten in einer Baracke, die für jede ein Bett mit Strohsack und sonst nichts enthielt und die im Winter mangels Heizmaterial erbärmlich kalt war. Dass wir auch noch Untermieter hatten, erfuhren wir eines Nachts, als uns merkwürdige Geräusche weckten und wir eine Ratte entdeckten, die der einen von uns ein Stück noch vom Transport stammendes Hartbrot unterm Kopfkissen hervor geklaut hatte, damit über den Holzfußboden klap­perte und dann Schwierigkeiten bekam, es in ihr Schlupfloch zu ziehen! Ansonsten waren wir „Mädchen für Alles“, lernten mit dem Bollerwagen Lebensmittel zusammenholen, Krankenbaracken putzen, wieder mal Holz hacken, für 150 Leute Gemüse putzen, aus 150 Liter Wasser und 3 Eimer Schrotmehl Suppe kochen, Kessel putzen, Geschirr spülen, Küche putzen usw. Alle Versuche in der Zeit, etwas über die Eltern zu erfahren, schlugen fehl. Ich bekam aber Verbindung mit meiner Klassenkameradin Gertraut P., die aus Berlin nach Elbing evakuiert war und deren Berliner Adresse ich auswendig wusste, und mit sehr entfernten, mir persönlich unbekannten Verwandten, die in Rostock ausgebombt und in Kröpelin/Mecklenburg untergekrochen waren. Sie wussten auch nichts von den Meinigen, schrieben aber, ich könnte kommen, wenn ich nicht wüsste wohin. Ein Leipziger Onkel war dort unauffindbar. –

Inzwischen füllte sich das etwas geschrumpfte Lazarett mit sehr vielen typhuskranken Zivilisten und zog später aus dem Baracken­lager in ein festes Gebäude um. Anfang Dezember bekam ich zwar nicht Typhus (den hatte ich schon als Zwölfjährige in Elbing absolviert), sondern zunächst eine üble Mittelohrentzündung, sodann Gelbsucht und schliesslich ein schweres rheumatisches Fieber, so dass ich fast zwei Monate fest lag auf einem primitiven Feldbett, liebevoll betreut von der jungen Lazarett- Ärztin, die aber fast keine Medikamente zur Verfügung hatte. Als ich im neuen Jahr dann endlich wieder auf sehr wackeligen Beinen stand, war die Typhus­welle vorbei und man konnte uns nicht mehr so recht gebrauchen. So packte ich meinen selbstgenähten Rucksack, wieder etwas berei­chert durch milde Gaben der sehr netten Krankenschwestern, und zog gen Mecklenburg.

Zuerst blieb ich, weil die Fahrkarten für die Weiterfahrt kontingen­tiert und für Tage im Voraus ausverkauft waren, für ein paar Tage bei meiner Klassenkameradin in Berlin; am Reisetag am Stettiner Bahnhof verließ mich angesichts der wartenden Massen alle Hoffnung, aber meine Freundin sprach mir Mut zu, und so eroberte ich tatsäch­lich einen Stehplatz in einem Wagen für „Reisende mit Traglasten“. Da ich überdies glückliche Besitzerin einer Halteschlaufe war und ich wusste, dass der Zug diesmal nicht nach Osten ins Ungewisse, sondern nach Stralsund fuhr, verbrachte ich den Tag stehend im Halbschlaf und die anschliessende Nacht in Stralsund im überfüllten Wartesaal

In Kröpelin arbeitete ich dann für Kost und Logis im Haushalt; er war ländlich, mit Plumpsklo weit draußen. Wasser lieferte die Pumpe – da musste ich immer ein Stoffbeutelchen drunterhalten, weil sonst lauter kleine Schnecken im Eimer schwammen. Frühmorgens als erste Tat die Straße kehren, wobei mich manchmal leiser Neid beschlich beim Anblick des LKW, der die Schüler des Ortes nach Bad Doberan zum Gymnasium brachte. Und gleich nach dem Frühstück (= 1 Scheibe Brot mit Salz, für alle, weil es wirklich nichts gab) auf Einkaufstour, nachsehen, ob irgendwo etwas aufgerufen war auf die Lebensmittelkarten und dann stundenlang danach anstehen, womit meistens der Vormittag verging, Stundenlang und immer wieder Strümpfe stopfen, mürbe Wäsche ausbessern, fegen, putzen. Samstags wurden die weißen Naturholz-Fussböden (schön!) mit der Wurzel­bürste und Sand gescheuert. Meine zwangsläufig erworbene Kompetenz für Holz durfte sich auch auf anderem Gebiet austoben: da es keine Kohlen gab, wurde der gesamte Wintervorrat für Herd und Kachelöfen in Holz angelegt – das waren 4 Festmeter zähes Fichtenholz und 8 Festmeter Buchenholz, in Meterkloben angeliefert. Sie wurden vom Hausherrn und mir in handliche Klötze zersägt und (überwiegend von mir) in Scheite zerhackt und fein säuberlich als Turm bzw. im Stall gestapelt.

Irgendwann im Mai 1946, als die Auslandspost wieder in Gang kam, schickte mir meine Berliner Tante einen Brief meiner Mutter, aus dem ich entnahm, dass Eltern und Schwester immer noch in Elbing seien und sich der Ausweisung bisher mit List entzogen hätten, weil sie immer noch hofften, dass ich nochmal zurückkäme und sie dann dort auch finden sollte. Erst jetzt kam dann auch einer meiner vielen, auf gut Glück immer wieder nach E. gerichteten Briefe dort an. Die Meinigen erwirkten dann die Ausreise (inzwischen fast schon schwierig für arbeitsfähige Leute) und kamen auf einem sehr strapaziösen Transport über Stettin nach dem Westen; durchliefen mehrere Lager und wurden schließlich im August in Büderich bei Düsseldorf endgültig eingewiesen. Ich saß derweil immer noch in der Ostzone und traute mich nicht über die grüne Grenze. Schließlich beantragte ich, in einem Kindertransport nach Westen mitge­nommen zu werden, aber im Sammellager dafür fiel ihnen plötzlich ein und auf, dass ich mit mittlerweile 17 Jahren eigentlich zu alt dafür wäre. Weil ich mich aber gar nicht wieder wegschicken ließ, gab man mir schließlich ein Baby aus dem Transport auf den Arm und deklarierte mich als Begleitperson. So fuhr ich offiziell von Ludwigslust nach Hannover, wo der Transport endete und ich mit einer Fahrkarte nach Düsseldorf entlassen wurde. Um Mitternacht bestieg ich, jetzt ganz freier Mensch ohne den gewissen östlichen Druck im Nacken, den D-Zug nach Düsseldorf. Grosses Staunen – der Zug hatte Fensterscheiben, war geheizt und beleuchtet, und wenn ich auch im Abteil keinen Sitzplatz bekam, war ich doch glückselig auf meinem Rucksack im Gang. Neben mir hockte auch ein Heimkehrer, dem hatte irgendjemand eine echte Bauernstulle geschenkt mit Speck belegt – die teilte er mit mir! Es war richtig märchenhaft! Früh um 7 Uhr hielt ich in Düsseldorf vergeblich Ausschau nach einem „Abholer“ (ich hatte von Hannover ein Telegramm geschickt) und fragte mich nach Oberkassel durch, wo ich über den Rhein musste. Da die Oberkasseler Brücke zerstört war und die Personenfähren wegen Niedrigwasser nicht fahren konnten, stolperte ich in meinen elegan­ten Schuhen (gleiches Kaliber wie die Russenschuhe, aber inzwischen eingetauscht gegen ein zusammengehöriges Paar) einen Riesenumweg über die Notbrücke, fuhr per Straßenbahn nach Büderich und fragte dort einen radfahrenden Briefträger nach dem Weg. Der sah mich scharf an, sagte: „Da hab ich doch eben ein Telegramm hingebracht – sind S i e das vielleicht?“, lud meinen Rucksack aufs Rad und brachte mich hin. Da inzwischen auch mein Bruder, den wir im Osten vermisst geglaubt hatten, aus amerikanischer Gefangenschaft ent­lassen worden war, wurde dieser Tag ein Feiertag in der Familie – wir waren davongekommen!

Eine Heimkehr im Sinne von „Nachhausekommen“ war es freilich nicht. Wir saßen, arm wie die Kirchenmäuse, als Unerwünschte heimatlos in der Fremde, sozusagen auf den Trümmern des Krieges, aber grenzenlos dankbar dafür, dass er endlich zu Ende war.

Das Festlokal in Büderich: in einem kleinen alten Einfamiliensiedlungshaus 2 schräge Kämmerchen unterm Dach mit zusammen weniger als 20 qm hinter einem winzigen, dunklen Bodenraum mit schwanken­den Dielen, zu erreichen über ein steiles, leiterähnliches Trepp­chen, über das auch alles Wasser für 5 Erwachsene (übern Hof von hinten aus der Waschküche geholt, wo sich übrigens auch das Plumpsklo befand) hinauf- und auch wieder hinuntergetragen werden musste. In den Zimmerchen hingen die Tapeten von den Wänden, der Putz bröckelte von der niedrigen Decke, die Betonfussböden waren mit abgetretenem Linoleum belegt; einzige Heizmöglichkeit: ein grosser, sehr platzraubender eiserner alter Kohleherd mit einstmals blankgescheuerter Metallplatte, auf dem wir auch kochten und für den wir Brennholz jeden Sonntag mühsam in den kahlgefegten Wäldern zusammenlesen mussten. Möblierung: ein kleiner Schrank nebst Kommo­de, drei ausrangierte Luftschutzbetten vom Amt und je eine kratzige Wolldecke (Rest schlief auf dem Fußboden); zum Waschen eine schräggekippte halbe Porzellanwaschschüssel, ein kostbarer Marme­ladeneimer zum Wasserholen – trotzdem kamen wir uns fürstlich vor an jenem Tag, weil wir wieder alle beisammen und endlich jeglichem Lager entronnen waren; und auch, weil wir das Glück hatten, bei einem älteren Ehepaar untergebracht zu sein, die wirklich gute Menschen und tätige Christen waren. Sie konnten uns nicht sehr viel helfen, weil sie selbst nicht viel hatten, besorgten aber doch bei Verwandten und Bekannten manche ausrangierten, uns noch so nützlichen Dinge wie wackelige Stühle, rieselnde Seegrasmatratzen, ein bisschen angeschlagenes Porzellan usw.

Bei der polizeilichen Anmeldung beim Amt gleich am nächsten Tage musste man bekanntlich zur Erlangung einer kostbaren Lebensmittel­karte eine Arbeitsbescheinigung vorlegen oder ein Arbeitsbefreiungszeugnis (als Schüler o.a.), und man wollte mich sogleich in einen Haushalt stecken. Meine Mutter meinte aber, ich sollte erst den Schulabschluss nachholen, zu dem mir ja nur noch ein paar Wochen fehlten – eine Möglichkeit, die ich aus meinen Vorstellun­gen schon ganz und gar gestrichen hatte. Eine erreichbare Mittel­schule gab es nicht, so wurde ich in Neuss in der einzigen Ober­schule, einer Klosterschule mit katholischen Ordensschwestern als Lehrpersonal, angemeldet. Hier fand ich mich am nächsten Morgen – nach fast zwei verlorenen Jahren – mit sehr gemischten Gefühlen eir, immer noch in meiner Russlandmontur, ausgestattet mit irgend­einem Papptäschchen, Mutters wunderbarerweise gerettetem Füller und einem Blechteller für die Schulspeisung. Da saß ich unter lauter netten, ordentlich gekleideten Schulmädchen, und es kam mir vor, als sei ich uralt und meine letzte Schulstunde mindestens tausend Jahre her. Wie ich an dieser Schule bestehen sollte, war mir gänzlich unklar. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass wir an unserer Elbinger Agnes-Miegel-Schule ein ganz ausgezeichnetes und sehr solides Wissen mitbekommen hatten, so dass ich da nach einigen passiven Anfangstagen mühelos einstieg; nur in Mathematik gab es 4 Wochen später im ersten Zeugnis eine schlichte Fünf – da hatte ich einiges noch nicht gehabt. Trotzdem bot mir die Schule ein halbes Stipendium bis zum Abitur an – da war ich natürlich hin- und hergerissen, mir aber völlig klar, dass wir das wirt­schaftlich gar nicht konnten (mein Vater war krank und arbeitsun­fähig). Aber meine Mutter entschied dafür – so stieg ich glück­selig von der Frauenschulklasse ins Gymnasium um, holte 3 Jahre Latein und 4 Jahre Französisch nach und fand mich in der sehr netten Klasse mit sehr verständnisvollen und hilfsbereiten Lehr­kräften schnell zurecht. Erst später ging mir richtig auf, was diese 3 Schuljahre meine Mutter gekostet haben müssen: sie ging derweil, um uns in den Hungerjahren notdürftigst zu ernähren, zu den Bauern nähen (Büderich war ein Dorf damals, rein katholisch und stockkonservativ, und viele leider von unfreundlicher Gemüts­art, die den – zugegeben lästigen – Flüchtlingen ihr Dasein übelnahmen und das auch laut und nicht gerade taktvoll sagten). Ich denke, dass es meiner Mutter, die ja solchen Unerfreulichkeiten am meisten von uns ausgesetzt war, einfach gut tat, zu beweisen, dass auch Flüchtlingstöchter nicht zu doof sind, mit den Töchtern der Eingesessenen in dieselbe Schule zu gehen, und es muss ihr ein stiller Triumph gewesen sein, dass so manche von den Bauerntöchtern nachher beim Flüchtlingsmädchen Nachhilfestunden bekamen (gegen Naturalien natürlich, zur Besserung der Ernährungslage).

Die 3 Schuljahre waren schön, aber so anormal wie die ganze Zeit: Schule stark zerbombt und von Fachräumen keine Rede, in der Turn­halle die Klosterkapelle, weil die Kirche auch zerstört war; zum Teil Schichtunterricht, oft Kohleferien; keine Bücher – es musste alles ab- oder mitgeschrieben werden, wobei ich mit meinen Elbinger Steno-Künsten sehr im Vorteil war; dabei gab es kein Papier und keine Hefte – man schrieb auf Zeitungsrändern und allerlei aben­teuerlichen Fetzen aus dem Altpapier. Was ich davon noch aufgehoben habe, gehört eigentlich in ein Schulmuseum! Wir waren wirklich viele Stunden am Tage nur mit „Aufschreiben“ beschäftigt! Daneben aber privat der Kampf ums tägliche Leben: Ähren lesen, Kartoffeln stoppeln (und die Felder waren so verzweifelt sauber abgeerntet!); jede Woche in den Wald, wo es wegen der vielen Sammler einfach nicht mehr genug Sammelholz gab, so dass ich mich wieder in der neu gelernten Kunst des Stubbenrodens übte; und welch ein Jubel, wenn man mal ein Brikett auf der Straße fand! Einen wertvollen Beitrag in diesem Kampf lieferte die Schulspei­sung: jeden Morgen betete die Familie, dass es Erbsensuppe geben möge – die mochten nämlich viele nicht, und ich konnte dann immer eine 2-Liter-Kanne davon mit nach Hause bringen! – In der Klasse hatten wir eine gute Gemeinschaft. Unter dem Ein­druck der letzten Vergangenheit und der harten Gegenwart wurde auch hart gearbeitet, so dass am 3.3.1950 alle 15 Schülerinnen der Oberprima die Reifeprüfung bestanden. Meine Mutter hat es noch erlebt; 8 Wochen später starb sie – zweiundfünfzigjährig – nach der Operation eines Gehirntumors an einer Lungenentzündung, die der erschöpfte Körper nicht mehr hatte überwinden können. Mein Vater überlebte sie nur um einige Jahre und starb vierundsechzigjährig an einem „Raucherbein“. Auch durch eine Amputation war ihm nicht mehr zu helfen gewesen.

So musste ich nach der Schule auf eigenen Füßen stehen. Da unter diesen Umständen an eine Berufsausbildung oder gar ein Studium nicht zu denken war, begann ich als ungelernte Hilfskraft mit einem Stundenlohn von 0,69 DM. Erst Jahre später bot sich in mei­nem Betrieb die Möglichkeit, neben meiner lebensnotwendigen Bröt­chenarbeit eine Ausbildung zu absolvieren, um – ohne Rücksicht auf irgendwelche Wünsche oder Neigungen in dieser Richtung – endlich einen Beruf zu haben, von dem ich leben konnte. So oder ähnlich erging es den meisten meines Alters, die heimat- und mittellos nach diesem Krieg von ganz unten anfangen mussten.