Umgehen mit möglichen NS-Spuren: Selbstreflexion

Wie schwer und zugleich dringend erforderlich Selbstreflexion ist, wenn es um seelische NS-Nachwirkungen geht, hat Jürgen in einem Text von 2008 so zusammengefasst:

„Im Zusammenhang mit Täterschaft und Täterhaftigkeit ist es wenig sinnvoll, mit Fingern auf andere zeigen. Dann setzen nur mit Macht die verschiedenen Abwehrmanöver ein, insbesondere in Richtung des eingangs notierten Statements: ‚Täter, das sind die anderen!’“
Viel besser ist es, wenn dem Blick nach außen der auf sich selber vorausgegangen ist, auf die eigene Herkunft in Familie und weiterer Umgebung und auf die eigene Lebenspraxis, und wenn dabei die Frage nach eigener Täterhaftigkeit nicht ausgeklammert wird. Es geht um eine Kultur der von Selbstreflexion getragenen Bemühung um Wahrheit und Wahrhaftigkeit“
(Übermittlung von Täterhaftigkeit an die nachfolgenden Generationen, S. 162).
Aber: Es gibt hier keine abschließbaren Gewissheiten. Einerseits lässt es sich wohl als eine (relative) Grundverfassung von uns Menschen feststellen, sich nicht als Täter sehen zu wollen. Andererseits aber kann genau das im Spiel sein, was Jürgen wiederholt als deutsche Unterwelt skizziert hat. Wie weit wird vielleicht etwas für allgemein menschlich erklärt, was bei näherer Betrachtung mit Täter-Hintergründen aus der NS-Zeit zu tun hat? Wann sind solche Fragen übertrieben, wann aber ist ihre Unterlassung ein Kunstfehler etwa in der psychotherapeutischen Arbeit? Womöglich ein Tribut an gesellschaftsweite Abwehr?

„Sauber derbleckt“

Wie steht es überhaupt um eine Kultur der Selbstreflexion in unserem Lande?
„Über die Schwere des Leichten“, so ist ein ausführlicher Artikel in der SZ vom 1. 3.. 2024 überschrieben. Berichtet wird über die traditionsreiche Starkbierprobe am Münchner Nockherberg vom 28. 2. 24. Die Veranstaltung ist berühmt dafür, dass die zahlreich anwesende Politprominenz „derbleckt“ wird, d.h. mit Spott durchtränkte Kritik aushalten und dabei gute Figur machen muss. So geht während der Vorführungen die Kamera immer wieder auf die gerade Derbleckten. Und nachher werden die wichtigsten von ihnen interviewt. Am Ende findet mit ihnen eine Gesprächsrunde statt. Es gibt also viele Gelegenheiten, sich auch einmal etwas selbstkritisch zu äußern. Das Format dieser Veranstaltung schreit geradezu danach. Man ist ja nicht allein der oder die Derbleckte. Und man hat es doch auch genossen, so in aller Blick zu sein. (Das Schlimmste ist es, nicht vorzukommen auf der Bühne). Doch wie sah es diesbezüglich aus? Im Bericht heißt es:
„Und was ist jetzt mit dem pädagogischen Effekt? (…) Alle haben den Erziehungsauftrag erkannt. Halleluja! Aber dann, Ernüchterung. fast alle reichen ihn zügig weiter. (…) Dass die Selbsterkenntnis sich in engen Grenzen hält, bestätigt sich bei ‚Sauber derbleckt‘, der inzwischen auch schon fast traditionellen Post-Match-Analyse im BR.“

Ein Pionier der Selbstreflexion

Seit vielen Jahren haben wir das folgende Zitat im Sinn. Es stammt aus Sigmund Freuds Traumdeutung.

„Ich will nicht behaupten, dass ich den Sinn dieses Traumes vollständig aufgedeckt habe, dass seine Deutung eine lückenlose ist. Ich könnte noch lange bei ihm verweilen, weitere Aufklärungen aus ihm entnehmen und neue Rätsel erörtern, die er aufwerfen heißt. Ich kenne selbst die Stellen, von denen aus weitere Gedankenzusammenhänge zu verfolgen sind; aber Rücksichten, wie sie bei jedem eigenen Traum in Betracht kommen, halten mich von der Deutungsarbeit ab. Wer mit dem Tadel für solche Reserve rasch bei der Hand ist, der möge nur selbst versuchen, aufrichtiger zu sein als ich. Ich begnüge mich für den Moment mit der einen neu gewonnenen Erkenntnis: Wenn man die hier angezeigte Methode der Traumdeutung befolgt, findet man, dass der Traum wirklich einen Sinn hat und keineswegs der Ausdruck einer zerbröckelten Hirntätigkeit ist“ (Sigmund Freud, Traumdeutung, S. 126). 

Selbstreflexion in diesem Sinne geht einen Mittelweg zwischen Selbsterhöhung und übermäßiger Selbstkritik.