Die Zukunft einer Illusion

Jürgen Müller-Hohagen

In einer berühmt gewordenen Arbeit mit dem Titel Die Zukunft einer Illusion befasste sich Sigmund Freud kritisch mit den Religionen und beschrieb sie als große Illusionen. Wie immer man inhaltlich dazu stehen mag, so bleibt doch Freuds intensives Bemühen, Illusionen als solche aufzudecken, bemerkenswert. Dazu passt folgendes Detail.

Als die Nazis in Deutschland an die Macht kamen, war Freud 76 Jahre alt und 81 Jahre, als sie Österreich und damit auch ihn überfielen. Mit 83 Jahren starb er am 23. September 1939 im Londoner Exil, also kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs. „Als es im Radio hieß, dies werde der letzte Krieg sein, fragte ihn Schur (sein Arzt): ‚Können Sie glauben, dass dies nun der letzte Krieg ist?‘, worauf Freud kurz antwortete: ‚Mein letzter Krieg.'“

Das ist Illusionslosigkeit in Reinform.

Aber Freud war nicht etwa jemand, der sich nie Täuschungen hingegeben hätte. In bewegenden Worten schrieb er 1915 über zerbrochene Illusionen. Zu diesem Zeitpunkt, also bereits nach relativ kurzer Dauer des Ersten Weltkriegs, verfasste er seine ebenfalls sehr bekannt gewordene Arbeit Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Daraus seien einige Absätze zitiert.

„Vertrauend auf diese Einigung der Kulturvölker haben ungezählte Menschen ihren Wohnort in der Heimat gegen den Aufenthalt in der Fremde eingetauscht und ihre Existenz an die Verkehrsbeziehungen zwischen den befreundeten Völkern geknüpft. Wen aber die Not des Lebens nicht ständig an die nämliche Stelle bannte, der konnte sich aus allen Vorzügen und Reizen der Kulturländer ein neues größeres Vaterland zusammensetzen, in dem er sich ungehemmt und unverdächtigt erging. Er genoss so das blaue und das graue Meer, die Schönheit der Schneeberge und die der grünen Wiesenflächen, den Zauber des nordischen Waldes und die Pracht der südlichen Vegetation, die Stimmung der Landschaften, auf denen große historische Erinnerungen ruhen, und die Stille der unberührten Natur. Dies neue Vaterland war für ihn auch ein Museum, erfüllt mit allen Schätzen, welche die Künstler der Kulturmenschheit seit vielen Jahrhunderten geschaffen und hinterlassen hatten. Während er von einem Saale dieses Museums in einen andern wanderte, konnte er in parteiloser Anerkennung feststellen, was für verschiedene Typen von Vollkommenheit Blutmischung, Geschichte und die Eigenart der Mutter Erde an seinen weiteren Kompatrioten ausgebildet hatten.“

Man sei sich zwar nicht sicher gewesen, ob Kriege ein für alle Mal überwunden wären, stellte sie sich aber eher als „ritterlichen Waffengang“ vor oder nur „unter den wenig entwickelten oder verwilderten Völkerindividuen Europas.“ „Aber man getraute sich etwas anderes zu hoffen. Von den großen weltbeherrschenden Nationen weißer Rasse, denen die Führung des Menschengeschlechts zugefallen ist, die man mit der Pflege weltumspannender Interessen beschäftigt wusste, deren Schöpfungen die technischen Fortschritte in der Beherrschung der Natur wie die künstlerischen und wissenschaftlichen Kulturwerte sind, von diesen Völkern hätte man erwartet, dass sie es verstehen würden, Misshelligkeiten und Interessenkonflikte auf anderem Wege zum Austrage zu bringen.“

Die Innigkeit und der Schmerz, die Fassungslosigkeit und zugleich das Bemühen um Fassung, Hoffnung als lebenserhaltende Kraft und ganz dicht daran als todbringende Illusion – hier spricht offensichtlich jemand aus tiefer eigener Erfahrung.

Das dabei anzutreffende Nebeneinander von radikaler Illusionslosigkeit mit der Verleugnung harter Realitäten der Gegenwart zeigt sich auch in folgender Passage aus der gleichen Veröffentlichung.

„Andererseits anerkennen wir den Tod für Fremde und Feinde und verhängen ihn über sie ebenso bereitwillig und unbedenklich wie der Urmensch (…) Wir beseitigen in unseren unbewussten Regungen täglich und stündlich alle, die uns im Wege stehen, die uns beleidigt und geschädigt haben. Das ‚Hol ihn der Teufel‘, das sich so häufig in scherzendem Unmute über unsere Lippen drängt und das eigentlich sagen will: ‚Hol ihn der Tod‘, in unserem Unbewussten ist es ernsthafter, kraftvoller Todeswunsch. Ja, unser Unbewusstes mordet selbst für Kleinigkeiten (…) So sind wir auch selbst, wenn man uns nach unseren unbewussten Wunschregungen beurteilt, wie die Urmenschen eine Rotte von Mördern. Es ist ein Glück, dass alle diese Wünsche nicht die Kraft besitzen, die ihnen die Menschen in Urzeiten noch zutrauten; in einem Kreuzfeuer der gegenseitigen Verwünschungen wäre die Menschheit längst zugrunde gegangen.“

Hier sieht jemand in ungewöhnlicher Klarheit in die Abgründe unseres Seelenlebens – doch dann verlagert er die eigentliche Destruktion in graue Vorzeiten zu den Urmenschen als einer Rotte von Mördern. Dass um ihn herum solche Rotten während seiner Lebenszeit konkret ihr Werk betrieben in den Kolonialreichen, im Ersten Weltkrieg und danach, das bleibt dann doch eigentümlich fern.

Also Freud trotz allem ein Illusionär?

Wohl eher umgekehrt: das 20. Jahrhundert so desillusionierend, dass es nicht einmal für jemanden wie ihn voll zu fassen war.