Flucht und Vertreibung

Jürgen Müller-Hohagen

Die seelischen Auswirkungen von Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Ostgebieten des Deutschen Reichs und aus den besetzten Ländern werden oft nicht erkannt, weder von den Betroffenen selbst noch bei ihren Kindern und Kindeskindern.

Das hat vielfältige Gründe:

  • Die Traumatisierung durch die Schrecken der Flucht, die tödlichen Bedrohungen, der Verlust von Angehörigen, Freunden, Heimat, Vertrautheit haben oft so schwer gewogen, dass darüber nicht zu sprechen war oder nur in stereotypen Erzählungen, die bei den Nachkommen Desinteresse bewirkten.
  • Die Umgebung war nicht vorbereitet, befand sich selber in großen Schwierigkeiten durch Krieg, wirtschaftliche Not, Desorientierung.
  • Sowohl wenn in der Außenwelt die extreme Schuld der Nazi-Verbrechen und die massenhafte direkte und indirekte Beteiligung an ihnen einigermaßen klar erkannt als auch wenn sie verleugnet wurden, band dies so viel an psychischer Energie, dass die Offenheit für das Schicksal der Flüchtlinge und Vertriebenen noch weiter eingeschränkt wurde.
  • Flüchtlinge und Vertriebene trugen in besonderer Weise an der gesamtgesellschaftlichen Schuld – ein Thema, das weit über einen materiellen „Lastenausgleich“ hinausging, worüber aber nur unzureichend geredet werden konnte, insbesondere was die seelischen Tiefenschichten betraf.
  • Der Kalte Krieg und die Politik der Vertriebenenverbände verstärkten eine Polarisierung zwischen dem Beharren auf den alten Grenzen und denen, welche die neuen Verhältnisse anerkannten. Die einzelnen Flüchtlinge und Vertriebenen hatten es schwer, in dieser Situation mit ihrem individuellen Schicksal gesehen zu werden.
  • Flüchtlinge und Vertriebene waren genauso wie diejenigen, die das Glück hatten, ihre Heimat nicht verloren zu haben, in die Schuld des Nazi-Reichs verstrickt. Auch von ihnen neigten viele dazu, sich aus der Täter- in die „Opfer“-Rolle zu begeben, also ihr Fluchtschicksal für das Verleugnen und Verschweigen der eigenen Verbrechensbeteiligung zu benutzen. Das aber konnte vielfältige Spannungen insbesondere bei den Kindern erzeugen.

Die bis heute und über die Generationen hinweg wirkenden Folgen von Flucht und Vertreibung sind vielfältig, werden aber immer noch bei weitem zu wenig gesehen. Insbesondere ist daran zu denken, wenn Menschen sich „eigenartig“ verhalten, das heißt anders, als man es ansonsten von ihnen erwarten würde, zum Beispiel: unerklärlich aufbrechende Ängste oder depressive Verstimmungen, Finanzprobleme, extreme Sparsamkeit oder Verschwendungssucht, Scheu, sich eine eigene Wohnung zu erwerben, Albträume (auch noch bei Kindern und Enkeln), übertriebene Bescheidenheit, extremer Leistungsanspruch und vieles andere mehr. Natürlich kann das jeweils ganz andere Ursachen haben, doch es wäre wichtig, wenn im Alltag ebenso wie in Psychologie und Pädagogik angesichts von unerklärlich wirkenden Verhaltensweisen und Gefühlszuständen mehr als bisher auch daran gedacht würde, dass es sich eventuell um Spätfolgen von Flucht und Vertreibung handeln könnte.

Wie es häufig vorkommt bei Traumatisierungen, brechen diese unter Umständen selbst nach längerer Zeit noch auf, ausgelöst etwa durch das älter Werden oder durch Situationen, die an damals erinnern.

Eine des öfteren beschriebene erhöhte Reizbarkeit und Ängstlichkeit in Deutschland könnte etwas mit den massenhaften Erfahrungen von Flucht und Vertreibung und mit deren Verdrängung zu tun haben. Und es steht zu vermuten, dass Ähnliches für Fremdenfeindlichkeit und mangelnde Integrationsbereitschaft gegenüber Migranten gilt.