Zum weiten Feld der Traumatisierungen – Perspektiven aus der praktischen psychologischen Arbeit

Jürgen Müller-Hohagen

Mit vielem des im Folgenden Benannten können wir in unserer Arbeit oder in ihrem näheren Umfeld in Berührung kommen – oder davor zurückweichen, bewusst oder unbewusst. Es handelt sich um Traumatisierungen, wie ihnen jederzeit in allgemeinen Sozial- und Gesundheitseinrichtungen zu begegnen ist, sei es in der ärztlichen, psychiatrischen oder psychotherapeutischen Praxis oder wie in meinem Fall an einer ganz „normalen“ Erziehungs- und Familienberatungsstelle

„An diesem Abend erst ist mir aufgegangen, wie sehr mein Leben bis heute davon bestimmt ist, dass ich als Kind beim Angriff auf Dresden dabei war.“ 45 Jahre später fiel diese Äußerung. Sie stammte nicht von jemandem, der nur selten über seelische Zusammenhänge nachdenkt, sondern im Gegenteil von jemandem aus dem sozialen Bereich. Und doch war dem mittlerweile 50Jährigen erst jetzt etwas Entscheidendes klargeworden, während eines Vortrags, den ich über die Bedeutung von Extrembelastungen in der psychologischen Arbeit hielt. Im Zentrum meiner Ausführungen stand der Bericht über eine Familientherapie, in der es besonders um den Vater und um die generationenübergreifenden Auswirkungen von dessen Fluchtschicksal gegangen war. Erst in unseren Gesprächen an der Erziehungsberatungsstelle war deutlich geworden, dass die großen Schwierigkeiten des Kindes, wegen denen die Familie zu uns geschickt war, mit diesem traumatischen Hintergrund zusammenhingen.

Und jetzt wiederum, beim Anhören dieses Berichts, war es in meinem Kollegen zu einem Aha-Erlebnis gekommen. Schlagartig sei ihm aufgegangen, wie das damals Erlittene und sein späteres Leben zusammengehörten, aber dass sie bisher getrennt geblieben waren. Sie hatten nichts miteinander zu tun gehabt.

Er frage sich, wieso diese einschneidende Erfahrung, damals mitsamt seiner Familie nur um ein Haar lebend davongekommen zu sein, weder in seiner eigenen Therapie noch in seiner therapeutischen Weiterbildung jemals eingehender thematisiert gewesen sei. Ich habe erwidert, das sei typisch. Traumatisierungen bleiben im Nirgendwo, auch in Therapien, auch im beruflichen Werdegang von Menschen, die eigentlich damit zu tun hätten.

Mit meinem einleitenden Blick auf Dresden ist Mehreres angesprochen: die Schwierigkeit der direkt Betroffenen selber, ihre eigene Traumatisierung wahrzunehmen und deren verflochten Sein in ihr Leben insgesamt konkreter zu erfassen; dieselbe Schwierigkeit auf Seiten der Umgebung; die Verleugnung bei den Fachleuten; die Bedeutung andererseits eines fachlichen Herangehens.

Bevor ich diese Punkte näher beleuchte, gilt es ein mögliches Missverständnis auszuräumen. Von Verleugnung könne man doch bei den vorgenannten Beispielen nicht sprechen, denn sowohl jener Kollege als auch ich selber hätten doch weiterhin um den Bezug zu Dresden gewusst, um den eigenen oder den der Partnerin. Also könne es sich nicht um Verleugnung handeln. Hierzu gilt es zu erläutern, dass Verleugnung häufig nicht in einem völligen Ausblenden der traumatischen Erfahrung besteht. Vielmehr ist es deren Bedeutung, sind es die Zusammenhänge mit den übrigen Lebensbezügen, was nicht mehr wahrgenommen wird. Das Wissen ist bei vielen Traumatisierungen durchaus vorhanden, aber es bleibt isoliert.

„Uns wirft nichts um, wir werden mit jeder Schwierigkeit fertig.“ So habe ich es immer wieder von Eltern behinderter Kinder gehört. Sie hatten Grund zum Stolz, und es war wichtig, sich und mir zu beteuern, wie sie dieses schwierige Schicksal gemeistert hatten. Und doch: Sie verleugneten, welche Spuren dieses Schicksal in ihnen hinterlassen, wie es sie verändert, sie aus der Bahn gedrängt hatte. Manchmal verriet sich dies als erstes in einem Händezittern, in einem Schwanken der Stimme, später dann vielleicht in Tränen, denen sie zunächst fassungslos gegenüberstanden. „Das ist doch eigenartig,“ so sagte es eine Mutter, die unsere Erziehungsberatungsstelle wegen emotionaler Schwierigkeiten der zehnjährigen Tochter aufsuchte und mir jetzt im Erstgespräch auch von dem Behinderungsverdacht berichtete, unter dem die ersten zwei Lebensjahre ihres Kindes gestanden hatten. „Das ist doch eigenartig, da hat sich das dank der Krankengymnastik wunderbar gegeben, und ich denke schon lange nicht mehr daran, doch jetzt, wenn ich es Ihnen erzähle, und Sie haben ja auch im Kinderzentrum gearbeitet, da kommt es in mir hoch, da habe ich einen Kloß im Hals.“ So etwas ist typisch. Und genau dieses jahrelange Absperren der Erinnerung und dann die Verblüffung, wenn unerwartet ein tiefer Schrecken gespürt wird, findet sich häufig bei Menschen, die traumatisiert wurden.

Oder denken wir an Unfälle. Wie oft verhalten Menschen sich in dieser Situation außerordentlich ruhig und angemessen, und die Panik kommt erst später hoch, nach Stunden, nach Tagen, manchmal erst nach Jahren. Je länger aber die Zwischenzeit ist, um so unverständlicher wirken dann die Angstattacken oder die depressiven Verstimmungen.

Ich halte also fest: Nichtwahrnehmen des Traumas auf Seiten der Betroffenen, Nichtwahrnehmen seiner Bedeutung und seiner Zusammenhänge mit dem weiteren Leben, findet sich typischerweise bei vielen Formen von Traumatisierung.

Was die Umgebung betrifft, so habe ich etwa in der Arbeit mit den Familien behinderter Kinder sehr konkret erfahren, wie verschlossen sie oft deren besonderen Belastungen und ihrer Traumatisierung gegenübersteht.1 Das reicht von den überforsch gegebenen oder gänzlich ausgebliebenen Aufklärungen in der Geburtsklinik oder bei den Vorsorgeuntersuchungen über die „gutgemeinten“ Ratschläge der Verwandtschaft bis zum grundsätzlich korrekten, hier aber manchmal deplazierten Nachforschen auf psychologischer oder sozialpädagogischer Seite zur Frage möglicher Partnerschaftsprobleme der Eltern. „Es war schrecklich. Wir wussten doch, dass mit unserem Kind etwas nicht stimmt. Aber niemand schenkte uns Glauben. Stattdessen sollten wir über unsere Ehe reden.“ So brach es aus den Eltern eines fünfjährigen Kindes heraus, bei dem sich in diesem Alter erstmals die Diagnose einer erheblichen Behinderung im geistigen Bereich stellen ließ. Traumatisierungen entstehen nicht immer durch ein punktuelles Ereignis von überwältigendem Charakter; sie können sich auch durch eine lange Zeit der Ungewissheit und in der Summation der vielen kleinen Zusammenbrüche ergeben

Kommen wir zum Ausblenden traumatischer Zusammenhänge auf Seiten von Fachleuten, die gerade dafür von Berufs wegen besonders aufmerksam sein sollten. Von heute her betrachtet, wirkt es zunächst unverständlich, wie lange Zeit Psychiater in Deutschland gebraucht haben, um die Traumatisierung durch KZ-Haft zu begreifen. Bis weit in die siebziger Jahre lehnten Psychiater in Deutschland in ihren Gutachten reihenweise Ansprüche auf Entschädigung von Menschen ab, bei denen wir heute ganz selbstverständlich eine schwere Traumatisierung annehmen würden.2 Es bedurfte erst ausgedehnter wissenschaftlicher Untersuchungen, um daran etwas zu ändern.3

Ähnliches gilt für Psychotherapeuten. Und wiederum noch länger dauert es im allgemeinen, bis die Allgemeinheit ihren Blick verändert. Diese Allgemeinheit aber ist nicht etwas Abstraktes, sondern sie macht die Millionen von Nachbarn, Freunden, Kollegen, Familienangehörigen aus, die nicht auf den Gedanken kommen, das eigenartige oder störende Verhalten ihres Gegenübers könne etwas mit Traumatisierung zu tun haben.

Auf folgende Punkte sei besonders hingewiesen:

  1. Wir haben die Herkunft des traumatisierenden Ereignisses zu berücksichtigen. Handelt es sich um eine Naturkatastrophe oder um etwas von Menschen Gemachtes? Ist Letzteres etwas relativ Anonymes wie beispielsweise ein Börsenkrach, oder sieht sich jemand von einer Vertrauensperson extrem bedroht und geschädigt? Wird jemand als politischer oder religiöser Gegner bekämpft oder zum Untermenschen erklärt und als Ungeziefer behandelt? Dies sind grundlegende Unterschiede. Schicksalsschläge, und mögen sie noch so schlimm sein, bei denen aber die Unterstützung der Umgebung zu verspüren ist, bedeuten etwas grundlegend anderes, als von der Majorität aus der menschlichen Gemeinschaft überhaupt ausgeschlossen zu werden. Hier werden die Grundlagen des Menschseins erschüttert. In vielen Berichten von KZ-Überlebenden wird dies deutlich.
  2. Oftmals wird die traumatische Wirkung eines Ereignisses von daher nicht in Erwägung gezogen, als sie doch so früh im Leben erfolgt sei. Das Kind hätte sie nicht bewusst miterlebt. Dazu ist zu sagen, dass gerade solche Einbrüche oft die nachhaltigsten Folgen zeigen. Kinder bekommen außerordentlich viel mit, längst bevor sie es näher begreifen können.4 Dies gilt für Ehedramen oder den Tod von Angehörigen ebenso wie für sexuellen Missbrauch oder Flucht oder politische Haft und Folter eines Elternteils.5
  3. Eine Traumatisierung bildet sich unter Umständen nicht aufgrund eines einzelnen schwerwiegenden Ereignisses, sondern erst durch die Abfolge verschiedener solcher Einwirkungen. Der aus Deutschland emigrierte Arzt Hans Keilson hat dazu den wichtigen Begriff der sequentiellen Traumatisierung geprägt.6 Er kam zu ihm bei der Untersuchung des Lebensschicksals jüdischer Kinder in Holland, die während der Okkupation versteckt wurden. Das Trauma der Trennung von ihren Eltern und die Ungewissheit über deren Schicksal hatten viele von ihnen noch ohne sichtbare Störungszeichen überstanden, auch die notwendige Umgewöhnung zu einer „christlichen Identität“ in ihren Zufluchtsfamilien. Doch wenn sie dann nach der Befreiung vom Tod der Eltern erfuhren und wenn schließlich Verwandte sie zu sich holten – dann war manches Mal die Sequenz der Brüche so überwältigend, daß es zu dauerhaften Schädigungen kam.
  4. Ein benachbartes Konzept ist das der Retraumatisierung. Menschen haben eine traumatische Erfahrung einigermaßen überstanden, und dann trifft dasselbe oder ein ähnliches Ereignis erneut ein. Denken wir an Kinder, die zum wiederholten Male durch Trennung oder Scheidung einen Vater bzw. Stiefvater verlieren. Oder mir steht das Beispiel von Rumänien-Aussiedlern der sechziger Jahre vor Augen, die in ihrem Wohnblock in München Hasenbergl, wo meine Beratungsstelle liegt, eine heimatliche Vertrautheit aufgebaut haben – und jetzt wird ihnen vom Wohnungsamt eine türkische Familie hineingesetzt, und sie geraten aus den Fugen, nicht primär aus Ausländerhass, wie leicht gemeint wird, sondern weil das alte Trauma der Entwurzelung angerührt und aufgewühlt wird.
  5. Holocaust-Überlebende in Israel angesichts drohender Giftgasangriffe im Golfkrieg – welch extreme Belastung, welche Gefahr massenhafter Retraumatisierung hier vorlag, dürfte wohl unmittelbar einsichtig sein. Wenn trotz dieses Zusammenkommens fürchterlicher Bedrohungen aus Gegenwart und Vergangenheit jedenfalls Massenpaniken ausgeblieben sind, so lag dies auf der individuellen Ebene sicherlich wesentlich daran, daß die Menschen etwas tun konnten, um sich zu schützen. Und sie waren nicht allein.
  6. Damit ist die Bedeutung protektiver Faktoren angesprochen. Nicht jedes traumatogene Ereignis muss tatsächlich zu einer bleibenden Traumatisierung führen. Ausgehend von der Beobachtung, dass manche KZ-Überlebende das Erlittene ohne gravierende Langzeitschädigungen überstanden hatten, entwickelte der israelische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky das Konzept der Salutogenese, d.h. eines Gegenstücks zu dem uns vertrauten Blickwinkel in Richtung auf die Entstehung von Störungen, also die Pathogenese. Wie kommt Gesundheit zustande, wie wird sie aufrechterhalten? Der zentrale Begriff bei Antonovsky lautet „Sense of Coherence“. Dieses Gefühl des Zusammenhalts wiederum besteht aus einem „Sinn für Sinnhaftigkeit“, aus dem der „Überschaubarkeit“ sowie der „Beeinflussbarkeit des eigenen Lebens“.7 Mir ist dieses Konzept sehr wichtig geworden auch für meine Arbeit an der Erziehungsberatungsstelle im „Sozialen Brennpunkt“ München Hasenbergl. Hier kann man fast täglich den deutlichen oder verborgenen Auswirkungen traumatischer Erfahrungen begegnen. Dabei hilft es sehr, den Blick auch auf das Stärkende, Haltende, Schützende zu richten.
  7. Traumatisierte sind entscheidend auf das Eingehen der Umgebung angewiesen. Zugleich aber können sie dieses meist nicht von sich aus erbitten. Die Reaktion auf schwere Traumatisierung besteht oft in massiven Scham- und Schuldgefühlen, wobei diese häufig nicht voll bewusst sind, damit aber in ihrer Wirkung nochmals gravierender werden.8 Eingehen der Umgebung auf das traumatisiert Sein – was erfordert dies? Oftmals sind es nicht die großen Hilfestellungen – eher würden diese verschrecken. Doch es besteht eine tiefe und meist unausgesprochene Bedürftigkeit, dass überhaupt die Traumatisierung gesehen, dass sie anerkannt wird: Wahrnehmen des Unsagbaren.
  8. Dies setzt voraus, dass auch die Menschen der Umgebung sich mit eigenen traumatischen Hintergründen einigermaßen vertraut gemacht haben. Anderenfalls kommt es zu einer Aufteilung in „Betroffene“ und „Nichtbetroffene“, wovor Maren und Marcelo Viñar nachdrücklich warnen,9 und zu unbewusst verlaufenden Rückstoßungsprozessen. Das Trauma der anderen erinnert mich an das eigene, dessen ich aber nicht gewahr werden kann. Also schiebe ich die anderen von mir weg. Diese verbreiteten Interaktionsformen werden wenig gesehen. Angehörige helfender Berufe müssen davon nicht ausgenommen sein.
  9. Auch Traumatisierung kann zum Vorwand genommen werden, kann unter Umständen von Gegenteiligem ablenken, nämlich von eigener Täterschaft. „Die Täter als Opfer“, das ist ein Thema von akzentuierter Bedeutung in Deutschland.10 Geredet wurde viel in zahlreichen Familien nach 1945 trotz andererseits tiefreichenden Schweigens. Thema war massenhaft das eigene Leiden in Inflation, Weltwirtschaftskrise, Krieg, Flucht und Vertreibung. Auch wenn die Seite der Täter und Mitläufer nicht von Traumatisierungen ausgenommen war und es diese sehr wohl zu berücksichtigen gilt, so kann damit nicht das eigene beteiligt Sein an den Nazi-Verbrechen aufgewogen oder beiseitegewischt werden.
  10. Vieles spricht dafür, dass in der Welt insgesamt, aber in Deutschland in noch erhöhtem Maße die Bedeutung von Traumatisierung in Fachwelt und Allgemeinheit unterschätzt wird. So hat der bekannte Psychosomatik-Forscher Wolfgang Schüffel darauf hingewiesen, „dass sich die Deutschen (…) als Aggressoren und Verlierer zweier Weltkriege nach unbeschreiblichem, massenhaftem, aber dennoch für jeden individuell spürbarem Leid (…) mehrfach der notwendigen Trauerarbeit versagt haben. Dies (…) (hat) zu tiefen emotionalen Verwerfungen geführt, die sich nachhaltig im ganzen Volk (zeigen).“11 Dies trete sehr stark in Form medikalisierter Beschwerden auf.
    Dazu passt, dass in weiten Teilen der deutschen Psychiatrie und ihrer Nachbardisziplinen selbst das verharmlosende Konzept der Posttraumatischen Belastungsreaktion bis auf den heutigen Tag ein Randdasein fristet.
    Traumata werden auch transgenerationell weitergetragen. Ich schätze, daß psychische und somatische Störungen bei zahlreichen Menschen, die selber nicht direkt von Traumatisierung betroffen waren, damit zu tun haben – bei sehr viel mehr Menschen, als wir üblicherweise annehmen.
    Vielleicht ist mit den vorstehenden Beispielen und Hinweisen wenigstens in der Dimension nachvollziehbar geworden, wie sehr in unserem heutigen beruflichen und privaten Leben die Bedeutung von Traumatisierungen immer noch beiseitegeschoben wird. Dann aber werden Menschen, die von Folter und Flucht gezeichnet bei uns Schutz suchen, erst recht mit Distanz behandelt. Dann machen wir uns und ihnen so schwer, was doch notwendig wäre: Wahrnehmen des Unsagbaren.
    Der uruguayische Psychoanalytiker Marcelo Viñar hat dazu eindringliche Worte gefunden.

„Vor 23 Jahren, im Juni 1972, war ich drei Monate in Haft. Ich hatte einen psychotischen Patienten, der im Untergrund lebte, auf Bitten seiner Angehörigen aufgesucht und behandelt. Zivilrechtlich stellte dies keinerlei Vergehen dar, doch hatte bereits unter den demokratisch gewählten Staatsorganen, also vor dem Staatsstreich von 1973, die Militärjustiz ein Dekret erlassen, das in solchen Fällen zum Denunzieren verpflichtete. Da ich dem nicht nachgekommen war, sah man in mir einen ‚Kollaborateur mit einer subversiven Organisation‘, und ich wurde eines Nachts von einem Militärtrupp in Haft genommen. Meine Angehörigen waren trotz intensiver Nachforschungen fast einen Monat lang im Ungewissen über meinen Verbleib.

Heute weiß ich, dass diese drei Monate mein Leben und meine Wahrnehmung der Welt zutiefst verändert haben – auch wenn ich nur einem Teil des üblichen Martyriums ausgesetzt war und mein anschließender Gefängnisaufenthalt relativ kurz dauerte. Das waren Gründe, die meine Angehörigen, meine Freunde und auch mich selbst zunächst davon überzeugt sein ließen, ich hätte wohl keine schwerwiegende Traumatisierung davongetragen. Sollte dies dennoch der Fall sein, so wäre das auf meine Persönlichkeitsstruktur, auf meine psychopathologische Veranlagung zurückzuführen. Mein allgemein bekannter Beruf als Psychiater und Psychoanalytiker konnte gegebenenfalls in dieser Richtung eine Erklärung beisteuern, in den Augen der anderen und in meinen eigenen. Es fehlte nicht an Kollegen, die mich dies auf fürsorgliche Weise und voller Rücksichtnahme wissen ließen, während sich andere abschätzig oder gar verurteilend äußerten.

Ich benötigte viele Jahre innerer Arbeit und psychoanalytischer Therapie, um an mir selber zu verstehen, dass diese so logisch wirkende Erklärung unzutreffend war. Heute, 23 Jahre danach, weiß ich, dass diese Zeit des Terrors, die nicht länger als drei Monate währte, mein persönliches Schicksal und das meiner Familie nachhaltig bestimmt hat – zunächst im traumatischen Wiedererleben der kurzen Zeitspanne des Martyriums und später im unaufhörlichen Versuch, etwas daraus zu machen. Heute weiß ich: Schon das Wenigste ist fürchterlich und bleibt eingebrannt für immer.“12

Anmerkungen

  1. siehe Müller-Hohagen (1987)
  2. siehe Niederland
  3. siehe von Baeyer u.a.; Matussek
  4. siehe Müller-Hohagen (1994), S. 20 – 32
  5. siehe Maren Viñar
  6. siehe Keilson
  7. siehe Antonovsky
  8. siehe etwa Niederland; Stoffels (1991, 1994)
  9. siehe den Beitrag in diesem Band sowie Marcelo Viñar (1996)
  10. siehe Müller-Hohagen (1994), S. 61 – 76
  11. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 2. 95, Claus Peter Müller: Salutogenese – was erhält gesund?)
  12. Marcelo Viñar, S. 110 f

Literatur

  • Antonovsky, Aron (1987): Unraveling the Mystery of Health. Jossey-Bass. San Francisco
  • von Baeyer, W., H. Häfner und K.P. Kisker (1964): Psychiatrie der Verfolgten. Springer. Berlin
  • Keilson, Hans unter Mitarbeit von H.R. Sarphatie (1979): Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. Klett. Stuttgart
  • Matussek, Paul (1971): Die Konzentrationslagerhaft und ihre Folgen. Springer. Berlin
  • Müller-Hohagen, Jürgen (1987): Psychotherapie mit behinderten Kindern. Kösel. München. 19932: Asanger. Heidelberg
  • Müller-Hohagen, Jürgen (1994): Geschichte in uns. Knesebeck. München
  • Müller-Hohagen, Jürgen (1996) (Hg.): Stacheldraht und heile Welt. Historisch-psychologische Studien über Normalität und politischen Terror. edition discord. Tübingen
  • Niederland, William G. (1980): Folgen der Verfolgung. Das Überlebenden-Syndrom Seelenmord. Edition Suhrkamp. Frankfurt
  • Stoffels, Hans (1991) (Hg.): Schicksale der Verfolgten. Psychische und somatische Auswirkungen von Terrorherrschaft. Springer. Berlin
  • Stoffels, Hans (1994) (Hg.): Terrorlandschaften der Seele. Beiträge zur Theorie und Praxis von Extremtraumatisierungen. Roderer. Regensburg
  • Viñar, Marcelo (1996): Gedächtnis und Zukunft. Über den Einfluß des politischen Terrors auf das kollektive und das individuelle Bewußtsein. In Müller-Hohagen (1996), S. 110 – 127
  • Viñar, Maren (1996): Folgen politischer Gewalt bei Kindern und Jugendlichen in Südamerika. In Müller-Hohagen (1996), S. 128 – 146