Leben in Ressentiments

Bei Ressentiments handelt es sich nach dem Psychoanalytiker Léon Wurmser (u.a. Flucht vor dem Gewissen, 1987) um innersubjektive Dramen, die oft in großer Heftigkeit auftreten, also mit lodernden Affekten und heißen Emotionen. Statt „Ich habe (dies oder jenes) konkret erlebt“ heißt der Kernsatz „Mir ist Unrecht geschehen“. Alles dreht sich um die betreffende Person. Aber zu beachten ist auch der Bezug auf Werte: „Mir ist Unrecht geschehen.“

Aus diesem Zentrum der seelischen Erregung richtet sich der Zorn nach außen gegen eine (vermeintliche) Ungerechtigkeit. Ob die Adressierten allerdings die tatsächlichen Verursacher sind, steht oft ohne Überprüfung fest. Es finden häufig Verschiebungen auf Sündenböcke statt. Insofern überschneidet sich das eigene innere Ressentiment mit dem Vorurteil über die andere Person, die Gruppe im Außen; sie arbeiten beide Hand in Hand. Das Ressentiment wuchert in den Untergründen, die Vorurteile sind inhaltliche Ummantelung, dienen als Projektionsfläche. 

Was verleiht Ressentiments ihre teils enorme und erschreckende Durchschlagskraft? Kann es wirklich das bewusste Erleben sein, aktuell Unrecht zu erleiden bzw. erlitten zu haben? Nein, meist liegen die eigentlichen Gründe für die Ressentiments weit zurück in einer schwierigen Vergangenheit und sind tief in Unbewusstem verankert. Oft drehen sie sich um bohrende, aber entsprechend abgewehrte Themen von Schuld, Versagen, Wertlosigkeit. Ebenso haben sie zu tun mit nicht aushaltbaren und deshalb in die Untergründe verschobenen Gefühlen, übermächtigen Kräften ohnmächtig ausgeliefert (gewesen) zu sein, deshalb „eigentlich nichts wert zu sein“. Erlebnisse von Ohnmacht, von Ausgeliefertsein sind ein ganz zentrales Feld in der individuellen Psychologie. Sie führen, wenn sie nicht bearbeitet werden können, entweder in Richtung von Selbstaufgabe, Selbstschädigung und Depression, oder sie mobilisieren umgekehrt ein enormes Aggressionspotenzial.

Hier also stellt sich in den psychischen Untergründen oft ein fataler Zusammenhang her zwischen verquerem Schuldverständnis, einer schiefen Generationenumkehrung zwischen Eltern und Kindern mit all den hierzu gehörenden dunklen Gefühlszuständen und den jeweiligen Ressentiments. Das bildet eine unheilvolle Trias rund um tiefe Gefühle von Ent-Wertung.

Zu beachten ist dabei, dass diese Hintergründe zwar sehr auf Vorgänge im frühen Lebensalter verweisen, dass aber spätere Einflüsse nicht ausgeschlossen werden dürfen. Gerade hier können gesellschaftliche Einwirkungen eine große Rolle spielen. Zu denken ist etwa an die massenhafte Entwertung von Lebensperspektiven in den neuen Bundesländern nach der Vereinigung infolge der rigorosen wirtschaftlichen Umstellungen.

Als „aufrechte Demokraten“, als „ethisch einigermaßen hochstehende Leute“ neigen wir dazu, Menschen, die wir als ressentimentgeleitet wahrnehmen, eher wenig an Werte-Orientierung zuzuschreiben. Tatsächlich kann aber das Gegenteil der Fall sein: Gerade ihr Bezug zu Werten – ggf. ihren höchst eigenen – macht sie dann so geladen und rabiat und gefährlich. Bei der realen oder vermeintlichen Verletzung dieser Werte, die für das einzelne Individuum bzw. für die mehr oder weniger große Gruppe zentrale Bedeutung haben, werden hier sehr leicht archaische und ausgesprochen zerstörerische Affekte mobilisiert. Und auch die damit verbundene massive Schwarz-Weiß-Sicht macht Ressentiments so gefährlich und zugleich so schwer erreichbar für eine Überprüfung an komplexen Wirklichkeiten.

Es ist nicht einfach, ressentimentgeleiteten Menschen gegenüber die Fassung zu bewahren und sich von ihnen nicht in einen Strudel wechselseitiger und völlig fruchtloser Beschuldigungen ziehen zu lassen. Wenn wir aber bedenken, dass auch sie wahrscheinlich von Werten bestimmt sind, können wir in der Auseinandersetzung mit ihnen vielleicht etwas gelassener bleiben. Sie lauern nämlich bewusst oder unbewusst auf jede Andeutung von Ab-Wertung ihnen gegenüber, um sich dann mit aller Wucht des Ressentiments dagegen zu „wehren“ und im Ergebnis eine sachliche Auseinandersetzung zu vermeiden.

Zugleich: Auch nach eigenen Ressentiments Ausschau zu halten und das zu reflektieren, kann für Demokraten und für demokratische Gesellschaften hilfreich sein, um nicht von sich aus solche Strudel zu begünstigen.

Es macht Sinn, in Bezug auf ressentimentgeleitete Menschen über ein psychologisches Verständnis für ihre verwickelten Hintergründe zu verfügen. Hier liegt der wahrscheinlich wichtigste Beitrag unserer Disziplin an dieser individuell und gesellschaftlich neuralgischen Stelle. Zugleich darf es nicht nach dem Motto gehen: Alles verstehen heißt alles verzeihen. Ganz und gar nicht. Vielmehr darf ihnen weder im hochstrittigen Ehekrieg noch auf der politischen Bühne in der Sache, im Wesentlichen auch nur um einen Zentimeter nachgegeben werden, jedenfalls nicht auf der Ebene ihrer ressentimentgetränkten Inhalte. Etwas anderes ist es, trotz aller aufgeladenen Emotionen die Suche nach möglichen Wahrheitsgehalten hinter den inszenierten Dramen nicht von vornherein aufzugeben. Das alles sind schwierige Spagate.

Ressentiments waberten schon lange in unseren individuellen und gesellschaftlichen Untergründen. Seit einiger Zeit artikulieren sie sich noch ungehemmter. Wir sehen in ihnen einen großen Feind demokratischer Verhältnisse – gerade weil sie die Auseinandersetzung mit ihnen so schwierig machen. Zugleich betonen wir nochmals: Hinter ihnen liegen tiefe und meist unbewusste Empfindungen von Ausgeliefertsein. Hier gilt es anzusetzen. Und dazu ist ein Brückenschlag zwischen politischer und psychologischer Ebene besonders wichtig.