Sexuelle Gewalt – „Privates und „Politisches“

Jürgen Müller-Hohagen

Meine Sicht auf das Problem der sexuellen Gewalt ist bestimmt einerseits von meinen Erfahrungen in der täglichen psychotherapeutischen und beratenden Arbeit in einer Münchner Erziehungs- und Familienberatungsstelle sowie in freier Praxis.
Die andere Perspektive ist meine Beschäftigung mit seelischen Auswirkungen der Nazizeit.

Beides ist zusammengekommen, nämlich als ich wiederholt feststellen musste, dass in ein und derselben Familie massiver sexuelle Gewalt und NS-Täterschaft vorgekommen sind. Das zeigte sich in Therapien und Beratungen, das wurde aber auch zunehmend in Briefen geäußert, und das kam immer wieder in nur äußerlich flüchtigen Begegnungen nach Vorträgen bei Tagungen oder Seminaren zur Sprache.

Von daher meine ich, dass dieser Zusammenhang nicht zufällig sein dürfte. Natürlich kann ich keine wissenschaftlichen Beweise vorlegen. Das ist auch nicht mein Ziel. Vielmehr möchte ich anregen, an so etwas überhaupt zu denken.

Wofür ist das wichtig?

In aller erster Linie für die offensichtlich vielen Menschen, die solcher politisch-privaten Gewalt ausgesetzt waren und die sich erst dann darüber äußern können, wenn ihnen dazu ein Raum eröffnet wird.

Hinsichtlich der Wahrnehmung sexueller Gewalt besteht diese Möglichkeit seit einiger Zeit zunehmend.

Doch für die Verknüpfung mit politischer Gewalt ist dies in keiner Weise gegeben. Vielmehr befinden sich die von dieser Gewalt Betroffenen, wenn sie davon etwas ausdrücken möchten, in der Gefahr, als „verrückt“, als „paranoid“ angesehen zu werden. Dabei ist hier die Gewaltausübung einschließlich der Drohungen, falls darüber geredet würde, oftmals besonders massiv, und es wäre erst recht Schutz von außen benötigt.

Ein Beispiel

Auf einer internationalen Tagung in Deutschland habe ich 1997 eine Arbeitsgruppe angeboten zum Thema:

Sexueller Missbrauch als eine Form der Tradierung von nationalsozialistischer Gewalt.
Es kamen siebzig Teilnehmerinnen und Teilnehmer!

Was heißt denn diese Resonanz anders, als dass die Verknüpfung von „Privatem“ und „Politischem“ ein drängendes, aber bisher übersehenes, tabuisiertes Thema ist.

Noch vor Ort hat sich ein Netzwerk zum weiteren Austausch und zur Unterstützung gebildet.


Das folgende Dokument, Text einer Klientin, ist extrem, aber es zeigt die Dimension dessen, um was es hier geht. Und ich bin sicher, dass diese Erfahrung kein Einzelfalls ist.

Ich fand lange Zeit keine Deckung zwischen dem, was ich erinnerte, und dem, was ich in Büchern über sexuellen Missbrauch lesen konnte. Die Bücher hörten da auf, wo für mich der Horror erst richtig anfing. Von dem, was dort beschrieben war, gingen die Hinweise immer hin zu den subtileren Formen des Missbrauchs.

Einen Hinweis auf brutalisierte Formen und Serienvergewaltigungen fand ich dort nicht.

Erst in einem Bericht in der Wochenzeitung ?Die Zeit‘ über Massenvergewaltigungen als Kriegsmittel in Ex-Jugoslawien entdeckte ich Parallelen – zum Teil Deckungsgleichheit – zu dem von mir Erlebten. Dort wurden die Frauen von jeweils drei bis vier Männern vergewaltigt. Die Vergewaltigungen gingen mit schweren Misshandlungen einher. Zum Teil starben die Frauen.

Solch eine Kriegssituation muss die Schule der Männer gewesen sein, die mir die Kindheit zur Hölle gemacht haben.

Bei ihnen hatte sich eine Koppelung von Gewalt und Sexualität vollzogen. Ihre sexuelle Erregung stieg mit den mir zugefügten Schmerzen und Schrecken.

Sie besaßen differenziertes Wissen über verschiedenste Misshandlungs- und Folterpraktiken und übten sie mit Routine und steigender Brutalität an mir aus.

Mein Vater war gierig darauf, mich in Todesschrecken zu versetzen, erst danach vergewaltigte er mich.

Es erscheint mir wie ein Wunder, dass er den Zeitpunkt, an dem er aufhören musste zu würgen, nie überschritten hat, denn der tiefe Todesschreck, den er auszulösen suchte, und der Tod selbst liegen, so scheint mir, dicht beieinander.


Ich bin sicher, es braucht ungeheuer viel Erfahrung, jemanden immer wieder in diesen Schrecken zu jagen und dennoch am Leben zu erhalten.

Wo und an wem hat mein Vater diese Erfahrungen gesammelt,
welche Qualen hat er dabei verursacht
und wie viele Menschen getötet?

Das am eigenen Leib Erlittene vermittelt mir das Grauen und die Schrecken, welche mein Vater und seine Kameraden im Krieg ausgelöst haben.

So erschreckend das hier wiedergegebene Kindheits- und Lebensschicksal ist, so reicht es doch nicht aus, bei seiner Wahrnehmung nur im Individuellen stehen zu bleiben.

Vielmehr zeigt sich doch daran, dass im allgemeinen Bewusstsein solche Kontinuitäten von Nazi-Gewalt einfach nicht für möglich gehalten werden, die Macht von Verleugnung bis zum heutigen Tag.

Dass Gewalt weiterwirkt, wieso muss das in Deutschland, aber auch anderswo in der Welt, immer wieder von neuem „entdeckt“ werden? Wieso immer wieder diese „Fassungslosigkeit“ wie zum Beispiel während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien?

Gerade angesichts solcher Verleugnung stellen sich Fragen auch nach der politischen Funktion sexueller Gewalt.

Es ist realistisch, von der Existenz gesellschaftlicher „Wurzelwerke der Gewalt“ auszugehen. Wie anders sollten es Gewaltherrscher immer wieder so schnell schaffen, die benötigten Gewalttäter und Folterer zu finden?

Ist der Gedanke abwegig, in der sexuellen Gewalt auch ein Einüben oder „In-der-Übung-Bleiben“ für den Kreis derer zu sehen, die unter „gegebenen Umständen“ mit „nie für möglich gehaltener Brutalität“ gegen ihnen Ausgelieferte, gegen unschuldige Menschen vorgehen?

Näheres

  • Müller-Hohagen, Jürgen (1994, 20022): Geschichte in uns. Seelische Auswirkungen bei den Nachkommen von NS-Tätern und Mitläufern. München, Berlin (besonders S. 169 – 228)
  • Müller-Hohagen, Jürgen (1996): Tradierung von Gewalterfahrung: Sexueller Missbrauch im Schnittpunkt des „Politischen“ und „Privaten“. In Gitti Hentschel (Hg.): Skandal und Alltag. Sexueller Missbrauch und Gegenstrategien. Berlin, S. 35 – 52