Sigrid Chamberlain: Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS-Erziehungsbücher. Psychosozial-Verlag, Gießen, 1997
Besprechung von Jürgen Müller-Hohagen
Erschienen in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen. Klett-Cotta, Stuttgart, 53. Jg., 1999, S. 1200-1202
Ein Kind kommt zur Welt – wie wird es aufgenommen?
Die folgenden beiden Umgangsweisen stehen einander diametral gegenüber. Die erste bewegt sich auf dieser Linie:
„Ist Hilfe im Haus, die sich um das Neugeborene kümmern kann, und ist genügend Platz vorhanden, so raten wir ganz unbedingt dazu, es von der Mutter getrennt unterzubringen und es ihr nur zum Stillen zu reichen. Der Mutter wird auf diese Weise nicht nur viel Beunruhigung erspart – sie horcht nur zu gern ängstlich auf jede Lebensäußerung des kleinen Wesens und sorgt sich unnötig darum -, sondern auch für das Kind ist ein eigener Raum von großem Vorteil“ (S.23).
Das andere Modell läßt sich etwa wie folgt beschreiben:
„Wenn eine Frau in der Klinik kurz vor der Entbindung steht, versammeln sich … ihre Familienangehörigen vor dem Kreißsaal. Ist das Kind geboren, so wird es innerhalb seiner ersten fünf Lebensminuten von den Eltern, den Großeltern und durchschnittlich noch weiteren fünf Verwandten geküßt … Nach sechs Wochen (waren) aus 80 Prozent der Haushalte der 1500 Einwohner zählenden Stadt Besucher in das Haus des Neugeborenen gekommen, um zu gratulieren“ (S. 28f).
Wenn Sigrid Chamberlain, die Autorin des hier besprochenen Buches, ein Beispiel wie das letztere zitiert, so soll damit nicht etwa italienische (traditionelle) Lebensweise idealisiert werden, sondern es können kulturelle Normen und Praktiken des eigenen Landes, in diesem Falle Deutschlands, eher wahrgenommen werden. Und von hier stammt das erstgenannte Zitat, aus einem Buch, das erstmals 1934 erschien, für das es 1945 aber keine „Stunde Null“ gab, vielmehr wurde es bis 1988 kontinuierlich weiter verkauft – in einer Bestseller-Gesamtauflage von mehr als 1,2 Millionen. Es handelt sich um das Ratgeberbuch von Dr. med. Johanna Haarer, dessen Titel bis 1945 „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ lautete, anschließend „Die Mutter und ihr erstes Kind“. Das Verdienst, erstmals darauf aufmerksam gemacht und eine kritische Analyse vorgelegt zu haben, kommt der Kinderpsychoanalytikerin Ute Benz zu (Dachauer Hefte Nr. 4, 1988).
Und nun hat die Sozialpädagogin und Diplom-Supervisorin Sigrid Chamberlain eine eingehende Untersuchung über Haarers Buch publiziert. Diese Analyse sei dringend zur Rezeption empfohlen. Gründe dafür sind vor allem folgende:
1. Chamberlain vermittelt allein schon aufgrund ihrer kompetenten Auswahl von Zitaten einen umfassenden Einblick in Haarers erste Veröffentlichung sowie auch in das 1936 herausgekommene Fortsetzungsbuch „Unsere kleinen Kinder“, das ebenfalls nach 1945 weitere Auflagen hatte (beide Bücher in der Werbung immer wieder als „vollständig neu bearbeitet“ angegeben). Darüber hinaus zitiert sie aus „Mutter, erzähl von Adolf Hitler!“ von 1939 – dem einzigen Haarer-Buch, das unter demokratischen Verhältnissen nicht mehr veröffentlicht wurde.
2. Aus Haarers Büchern ließe sich eine Abfolge krasser Sätze der braunen Pädagogik zusammenstellen. Doch damit verlöre man leicht aus dem Blick, daß diese eingefügt sind in einen zunächst ganz anders wirkenden Kontext, nämlich konzentriert auf die konkreten Hilfestellungen für die junge Mutter, voll der Beteuerungen, ausschließlich die Besorgnis um deren Wohl und um ein möglichst ungestörtes Gedeihen des Kindes sei Maßstab der Darlegungen. Man möge sich einmal umschauen in deutschen Bücherregalen nach einem der dort noch reichlich vorhandenen Exemplare und sich der spezifischen Atmosphäre dieses Bestsellers aussetzen und dabei sich vorstellen, es aus der Perspektive einer werdenden oder jungen Mutter (oder, dort kaum berücksichtigt, eines Vaters) zu lesen in all der damit verbundenen Unsicherheit. Der Rezensent jedenfalls kann dies aus eigener Erfahrung nur empfehlen, nachdem er vor Jahren eine Ausgabe von vor 1945 wie auch eine von 1960 studierte. Ich merkte, welche Mühe es bereitete, mich der Überzeugungskraft dieser „medizinischen Autorität“ zu entziehen.
An jene Erfahrung habe ich mich erinnert beim Lesen von Sigrid Chamberlains Buch, habe die große Distanzierungsarbeit noch mehr ermessen können, dank welcher sie, die selber nach Haarer-Maximen „Erzogene“, zu ihren Analysen gekommen ist. Was sie unternimmt, ist ein Ausleuchten im Sinne distanzschaffender Auseinandersetzung, gerade nicht aber ein vorschnelles Distanzieren im Ton bloßer Entrüstung oder oberflächlichen Besserwissens. Damit nämlich wären die Fallstricke des Haarer-Buches nur unzureichend zu erkennen.
3. Den wichtigsten Rückhalt für Chamberlains Untersuchungen bilden Erkenntnisse der psychoanalytischen Säuglingsforschung und der Bindungsforschung, also die neueren Erkenntnisse zur Entwicklung der Interpersonalität (besonders D. Stern; Klaus und Kennell; Dornes). Diese Einsichten werden den Anweisungen des Haarer-Buches gegenübergestellt. Das erzeugt Spannungslinien von großem Erkenntniswert.
4. Chamberlain hat sich nicht nur auf die Analyse des geschriebenen Wortes beschränkt, sondern sie ist seinen Langzeitwirkungen nachgegangen, indem sie Interviews mit Menschen geführt hat, die nach den Haarer-Büchern erzogen wurden. Davon gibt es viele. „Wenn ich mit Menschen meines Alters (Jahrgang 1941 plus/minus zehn Jahre) ins Gespräch über die Erziehungspraktiken in ihrer Herkunftsfamilie komme, so fällt sehr häufig der Name Haarer“ (S. 8). Aussagen aus diesen Interviews wie auch aus einigen autobiographischen Berichten belegen die massiven Prägungen, die von Haarers Anleitungen ausgegangen sind. Beim Lesen entsteht allmählich ein Eindruck von den tatsächlichen Dimensionen jener Pädagogik. „Es war doch nur ein Buch“, solches Beiseiteschieben gelingt dann immer weniger.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch das Nachwort des Historikers Gregor Dill. Hier wird erläutert, daß Haarers Pädagogik keineswegs bloß die einer bis dahin unbekannten jungen Ärztin war, sondern daß sie wie auch ihr Einsatz in den massenhaften Schulungen junger Mütter einen präzise kalkulierten Baustein der nationalsozialistischen Erziehungspolitik bildete.
5. Chamberlain geht umfassend den zentralen Themen kindlicher und familiärer Entwicklung nach. „Krieg gleich zu Beginn des Lebens“, so lautet die Überschrift des ersten Kapitels, in dem sie die bei Haarer sofort nach Geburt einsetzende „Erziehung“ thematisiert. „Wie die Mutter sich das Kind vom Leib hält“ – „Mangelnder Halt und Grenzenlosigkeit“ – „Das verweigerte Antlitz“ – „Die Zerstörung des Dialogs“, in diesen Kapiteln wie in dem Buch insgesamt belegt Chamberlain in großer Klarheit den zentralen Befund ihrer langjährigen Untersuchungen, nämlich wie sehr trotz mancher Überschneidungen die nationalsozialistische von sonstiger autoritärer Erziehung verschieden war. Damit von ersterer gesprochen werden kann, muß „noch ein Aspekt hinzukommen: Es ist der, daß eine nationalsozialistische Erziehung immer auch eine Erziehung durch Bindungslosigkeit zu Bindungsunfähigkeit ist. Dieses halte ich für entscheidend, und es ist bisher weitgehend unbeachtet geblieben“ (S. 11).
Erziehung durch Bindungslosigkeit zu Bindungsunfähigkeit wurde unter dem Nationalsozialismus systematisch und wirkungsvoll geplant und in die Praxis umgesetzt. Daß vieles davon bis heute weiterwirkt, machen Chamberlains Analysen in dankenswerter Klarheit sichtbar. Damit ist ihr Buch von größtem Wert auch für die analytische und therapeutische Arbeit.